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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Das Hlatzer Fand.
Heinrich Rückert.

Es giebt kein wunderlicheres und incongruenteres Bodengebilde in Europa
als unser deutsches Land. Fast scheint es, als spiele hier der geheimnißvolle
Zusammenhang zwischen Land und Leuten mit ein und als müßte man eine
Wechselwirkung statuiren zwischen den Verschränkungen und Verschlingungen
im Character unseres Volkes und den Abnormitäten des Stückes Erde, wo
es seine Heimath gefunden hat. Die seltsamste dieser topischen Eigenthümlich¬
keiten ist ohne Zweifel die Stellung Böhmens zu den übrigen deutschen Land¬
schaften. Böhmen ist von der Natur deutlich genug zur eigentlichen deutschen
Centrallandschaft, zu einer von allen Seiten umwallten Hochburg des Ganzen
angelegt, aber es ist von der Mitte weg an den Ostrand gerückt und dadurch
wird die so klar gedachte Disposition wie durch irgend eine Laune des Zufalls
völlig verschoben. Man vergleiche damit die Stellung der Auvergne und des
daran gelehnten Cevennen-Plateau's zu dem übrigen Frankreich, des castilischen
Hochlands zu den umgebenden Landschaften der iberischen Halbinsel und das
Auge wird sich der so viel größeren Symmetrie und organischeren Structur,
die hier waltet, nicht verschließen können.

Die Natur ist nicht dafür verantwortlich, daß wir Deutsche die Cita¬
delle unseres Landes in die Hände eines fremden Volkes gerathen ließen.
Aber einigermaßen entschuldigt oder erklärt sich unsere Fahrlässigkeit von ehe¬
mals doch wieder durch das Topische; wäre Böhmen nicht so ganz an den Ost¬
rand geschoben, läge es ungefähr in der räumlichen Mitte Deutschlands, so
würde es nicht so leichten Kaufes die Beute einer fremden Invasion geworden
sein. So aber drängte die slavische Völkerwanderung, die neben und hinter
der deutschen auf Mittel, und Südeuropa zielte, von selbst zuerst auf den
natürlich festesten Punkt von ganz Deutschland und seine Occupation muß
nicht einmal mit besondern Schwierigkeiten verbunden gewesen sein, da auch
jede Andeutung eines vor der Kritik Stichhaltenden historischen Zeugnisses
darüber fehlt. Daher konnte auch das Märchen erfunden und von seinen


Grenzboten III- I"?S. 61
Das Hlatzer Fand.
Heinrich Rückert.

Es giebt kein wunderlicheres und incongruenteres Bodengebilde in Europa
als unser deutsches Land. Fast scheint es, als spiele hier der geheimnißvolle
Zusammenhang zwischen Land und Leuten mit ein und als müßte man eine
Wechselwirkung statuiren zwischen den Verschränkungen und Verschlingungen
im Character unseres Volkes und den Abnormitäten des Stückes Erde, wo
es seine Heimath gefunden hat. Die seltsamste dieser topischen Eigenthümlich¬
keiten ist ohne Zweifel die Stellung Böhmens zu den übrigen deutschen Land¬
schaften. Böhmen ist von der Natur deutlich genug zur eigentlichen deutschen
Centrallandschaft, zu einer von allen Seiten umwallten Hochburg des Ganzen
angelegt, aber es ist von der Mitte weg an den Ostrand gerückt und dadurch
wird die so klar gedachte Disposition wie durch irgend eine Laune des Zufalls
völlig verschoben. Man vergleiche damit die Stellung der Auvergne und des
daran gelehnten Cevennen-Plateau's zu dem übrigen Frankreich, des castilischen
Hochlands zu den umgebenden Landschaften der iberischen Halbinsel und das
Auge wird sich der so viel größeren Symmetrie und organischeren Structur,
die hier waltet, nicht verschließen können.

Die Natur ist nicht dafür verantwortlich, daß wir Deutsche die Cita¬
delle unseres Landes in die Hände eines fremden Volkes gerathen ließen.
Aber einigermaßen entschuldigt oder erklärt sich unsere Fahrlässigkeit von ehe¬
mals doch wieder durch das Topische; wäre Böhmen nicht so ganz an den Ost¬
rand geschoben, läge es ungefähr in der räumlichen Mitte Deutschlands, so
würde es nicht so leichten Kaufes die Beute einer fremden Invasion geworden
sein. So aber drängte die slavische Völkerwanderung, die neben und hinter
der deutschen auf Mittel, und Südeuropa zielte, von selbst zuerst auf den
natürlich festesten Punkt von ganz Deutschland und seine Occupation muß
nicht einmal mit besondern Schwierigkeiten verbunden gewesen sein, da auch
jede Andeutung eines vor der Kritik Stichhaltenden historischen Zeugnisses
darüber fehlt. Daher konnte auch das Märchen erfunden und von seinen


Grenzboten III- I»?S. 61
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[0489] Das Hlatzer Fand. Heinrich Rückert. Es giebt kein wunderlicheres und incongruenteres Bodengebilde in Europa als unser deutsches Land. Fast scheint es, als spiele hier der geheimnißvolle Zusammenhang zwischen Land und Leuten mit ein und als müßte man eine Wechselwirkung statuiren zwischen den Verschränkungen und Verschlingungen im Character unseres Volkes und den Abnormitäten des Stückes Erde, wo es seine Heimath gefunden hat. Die seltsamste dieser topischen Eigenthümlich¬ keiten ist ohne Zweifel die Stellung Böhmens zu den übrigen deutschen Land¬ schaften. Böhmen ist von der Natur deutlich genug zur eigentlichen deutschen Centrallandschaft, zu einer von allen Seiten umwallten Hochburg des Ganzen angelegt, aber es ist von der Mitte weg an den Ostrand gerückt und dadurch wird die so klar gedachte Disposition wie durch irgend eine Laune des Zufalls völlig verschoben. Man vergleiche damit die Stellung der Auvergne und des daran gelehnten Cevennen-Plateau's zu dem übrigen Frankreich, des castilischen Hochlands zu den umgebenden Landschaften der iberischen Halbinsel und das Auge wird sich der so viel größeren Symmetrie und organischeren Structur, die hier waltet, nicht verschließen können. Die Natur ist nicht dafür verantwortlich, daß wir Deutsche die Cita¬ delle unseres Landes in die Hände eines fremden Volkes gerathen ließen. Aber einigermaßen entschuldigt oder erklärt sich unsere Fahrlässigkeit von ehe¬ mals doch wieder durch das Topische; wäre Böhmen nicht so ganz an den Ost¬ rand geschoben, läge es ungefähr in der räumlichen Mitte Deutschlands, so würde es nicht so leichten Kaufes die Beute einer fremden Invasion geworden sein. So aber drängte die slavische Völkerwanderung, die neben und hinter der deutschen auf Mittel, und Südeuropa zielte, von selbst zuerst auf den natürlich festesten Punkt von ganz Deutschland und seine Occupation muß nicht einmal mit besondern Schwierigkeiten verbunden gewesen sein, da auch jede Andeutung eines vor der Kritik Stichhaltenden historischen Zeugnisses darüber fehlt. Daher konnte auch das Märchen erfunden und von seinen Grenzboten III- I»?S. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/489>, abgerufen am 29.06.2024.