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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Hellenen! Oder wenn ein Tertianer den römischen vis tortis aequo strenuug
mit tapferen und thatkräftigen Mann überträgt, darf der Lehrer damit zu¬
frieden sein, ein Römer selbst aber hätte allen Grund gehabt, es nicht zu sein.
Oder paßt nicht der vorhin, um die Reihe nicht gar zu lang zu machen,
übergangene italienische Mlimtuomv, der Inbegriff des nationalitalienischen
Tugendideals als "ehrlicher Mann, braver Mann", wie man es manchmal über¬
setzt liest, wohl gar "Biedermann", wie die Faust aufs Auge? Mi-me'uomo
ein "Biedermann" deutschen Stils!

Wir Deutsche haben die Ehrlichkeit zu unserem Dogma erhoben: wir
sind nach unserm Glauben das specifisch ehrliche Volk und den Namen eines
ehrlichen Mannes verloren zu haben, gilt in den Augen des Volkes noch
heute als das ärgste, was von einem Menschen gesagt werden kann. Es ist
ein wunderliches Ding mit diesem jetzt so allmächtigen Begriff, wenn wir ihn
in seinem Entstehen und Wachsthum verfolgen. Ursprünglich heißt ehrlich
der, welcher die Pflichten des Rechtes und der Sitte, die jedem Stande be¬
sondere sind, vollkommen dem Herkommen gemäß zu erfüllen weiß. Die
Gesinnung ist gar nicht dabei betheiligt, folglich auch nicht der moralische
Werth des so genannten Menschen und der so genannten That. Der Ge¬
gensatz "unehrlich" zeigt dieß am besten, denn unter den "Unehrlichen Leuten"
unseres älteren Rechtes und unseres Volksbewußtseins bis an die Gegenwart
heran können und werden wahre Muster von Ehrlichkeit im heutigen Wortsinn
gewesen sein. Unehrlich war, wer durch das Schicksal der Geburt oder die
Noth des Lebens gezwungen wurde, außerhalb der rechtlich geordneten und
geschirmten socialen Gliederungen des Volkes zu stehn: alle fahrenden Leute
z. B. gehörten dazu, außerdem noch eine Menge von Berufsarten, die die/
Volksmeinung wenn gleich mit sehr wechselnder Laune perhorrescirte, denn
es gab bekanntlich Zeiten und Orte, wo das Nachrichteramt eine Art von
Standesehrenamt gewesen ist, während es später im allgemeinen vorzugsweise
"unehrlich" machte.

Allmählich hat sich daraus ein ganz anderer Begriff abgezweigt und ist
nunmehr der gültige geworden. Unsere Ehrlichkeit ist eine Tugend, nicht
bloß eine Virtuosität. Man kann auf das eine wie auf das andere stolz
sein, aber die Befriedigung des Gewissens ist doch nur das Eigenthum jener.
Und sie besteht nicht bloß darin, daß der Mensch nicht wegen äußerer Rück¬
sichten oder aus Berechnung, sondern kraft des von seinem Gewissen ge¬
leiteten, gewohnheitsmäßigen Willens auf jede Uebervortheilung seines Neben¬
menschen verzichtet, auch wenn die Gelegenheit noch so günstig dazu wäre.
Es liegt noch etwas tieferes und wärmeres darin, wie es sich in den Formeln
"offen und ehrlich, ehrlich heraussagen, eine ehrliche Seele" u. s. w. darstellt.


Hellenen! Oder wenn ein Tertianer den römischen vis tortis aequo strenuug
mit tapferen und thatkräftigen Mann überträgt, darf der Lehrer damit zu¬
frieden sein, ein Römer selbst aber hätte allen Grund gehabt, es nicht zu sein.
Oder paßt nicht der vorhin, um die Reihe nicht gar zu lang zu machen,
übergangene italienische Mlimtuomv, der Inbegriff des nationalitalienischen
Tugendideals als „ehrlicher Mann, braver Mann", wie man es manchmal über¬
setzt liest, wohl gar „Biedermann", wie die Faust aufs Auge? Mi-me'uomo
ein „Biedermann" deutschen Stils!

Wir Deutsche haben die Ehrlichkeit zu unserem Dogma erhoben: wir
sind nach unserm Glauben das specifisch ehrliche Volk und den Namen eines
ehrlichen Mannes verloren zu haben, gilt in den Augen des Volkes noch
heute als das ärgste, was von einem Menschen gesagt werden kann. Es ist
ein wunderliches Ding mit diesem jetzt so allmächtigen Begriff, wenn wir ihn
in seinem Entstehen und Wachsthum verfolgen. Ursprünglich heißt ehrlich
der, welcher die Pflichten des Rechtes und der Sitte, die jedem Stande be¬
sondere sind, vollkommen dem Herkommen gemäß zu erfüllen weiß. Die
Gesinnung ist gar nicht dabei betheiligt, folglich auch nicht der moralische
Werth des so genannten Menschen und der so genannten That. Der Ge¬
gensatz „unehrlich" zeigt dieß am besten, denn unter den „Unehrlichen Leuten"
unseres älteren Rechtes und unseres Volksbewußtseins bis an die Gegenwart
heran können und werden wahre Muster von Ehrlichkeit im heutigen Wortsinn
gewesen sein. Unehrlich war, wer durch das Schicksal der Geburt oder die
Noth des Lebens gezwungen wurde, außerhalb der rechtlich geordneten und
geschirmten socialen Gliederungen des Volkes zu stehn: alle fahrenden Leute
z. B. gehörten dazu, außerdem noch eine Menge von Berufsarten, die die/
Volksmeinung wenn gleich mit sehr wechselnder Laune perhorrescirte, denn
es gab bekanntlich Zeiten und Orte, wo das Nachrichteramt eine Art von
Standesehrenamt gewesen ist, während es später im allgemeinen vorzugsweise
„unehrlich" machte.

Allmählich hat sich daraus ein ganz anderer Begriff abgezweigt und ist
nunmehr der gültige geworden. Unsere Ehrlichkeit ist eine Tugend, nicht
bloß eine Virtuosität. Man kann auf das eine wie auf das andere stolz
sein, aber die Befriedigung des Gewissens ist doch nur das Eigenthum jener.
Und sie besteht nicht bloß darin, daß der Mensch nicht wegen äußerer Rück¬
sichten oder aus Berechnung, sondern kraft des von seinem Gewissen ge¬
leiteten, gewohnheitsmäßigen Willens auf jede Uebervortheilung seines Neben¬
menschen verzichtet, auch wenn die Gelegenheit noch so günstig dazu wäre.
Es liegt noch etwas tieferes und wärmeres darin, wie es sich in den Formeln
„offen und ehrlich, ehrlich heraussagen, eine ehrliche Seele" u. s. w. darstellt.


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[0485] Hellenen! Oder wenn ein Tertianer den römischen vis tortis aequo strenuug mit tapferen und thatkräftigen Mann überträgt, darf der Lehrer damit zu¬ frieden sein, ein Römer selbst aber hätte allen Grund gehabt, es nicht zu sein. Oder paßt nicht der vorhin, um die Reihe nicht gar zu lang zu machen, übergangene italienische Mlimtuomv, der Inbegriff des nationalitalienischen Tugendideals als „ehrlicher Mann, braver Mann", wie man es manchmal über¬ setzt liest, wohl gar „Biedermann", wie die Faust aufs Auge? Mi-me'uomo ein „Biedermann" deutschen Stils! Wir Deutsche haben die Ehrlichkeit zu unserem Dogma erhoben: wir sind nach unserm Glauben das specifisch ehrliche Volk und den Namen eines ehrlichen Mannes verloren zu haben, gilt in den Augen des Volkes noch heute als das ärgste, was von einem Menschen gesagt werden kann. Es ist ein wunderliches Ding mit diesem jetzt so allmächtigen Begriff, wenn wir ihn in seinem Entstehen und Wachsthum verfolgen. Ursprünglich heißt ehrlich der, welcher die Pflichten des Rechtes und der Sitte, die jedem Stande be¬ sondere sind, vollkommen dem Herkommen gemäß zu erfüllen weiß. Die Gesinnung ist gar nicht dabei betheiligt, folglich auch nicht der moralische Werth des so genannten Menschen und der so genannten That. Der Ge¬ gensatz „unehrlich" zeigt dieß am besten, denn unter den „Unehrlichen Leuten" unseres älteren Rechtes und unseres Volksbewußtseins bis an die Gegenwart heran können und werden wahre Muster von Ehrlichkeit im heutigen Wortsinn gewesen sein. Unehrlich war, wer durch das Schicksal der Geburt oder die Noth des Lebens gezwungen wurde, außerhalb der rechtlich geordneten und geschirmten socialen Gliederungen des Volkes zu stehn: alle fahrenden Leute z. B. gehörten dazu, außerdem noch eine Menge von Berufsarten, die die/ Volksmeinung wenn gleich mit sehr wechselnder Laune perhorrescirte, denn es gab bekanntlich Zeiten und Orte, wo das Nachrichteramt eine Art von Standesehrenamt gewesen ist, während es später im allgemeinen vorzugsweise „unehrlich" machte. Allmählich hat sich daraus ein ganz anderer Begriff abgezweigt und ist nunmehr der gültige geworden. Unsere Ehrlichkeit ist eine Tugend, nicht bloß eine Virtuosität. Man kann auf das eine wie auf das andere stolz sein, aber die Befriedigung des Gewissens ist doch nur das Eigenthum jener. Und sie besteht nicht bloß darin, daß der Mensch nicht wegen äußerer Rück¬ sichten oder aus Berechnung, sondern kraft des von seinem Gewissen ge¬ leiteten, gewohnheitsmäßigen Willens auf jede Uebervortheilung seines Neben¬ menschen verzichtet, auch wenn die Gelegenheit noch so günstig dazu wäre. Es liegt noch etwas tieferes und wärmeres darin, wie es sich in den Formeln „offen und ehrlich, ehrlich heraussagen, eine ehrliche Seele" u. s. w. darstellt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/485>, abgerufen am 29.06.2024.