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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Der Ehrliche in diesem Sinn vergreift sich nicht bloß nicht an dem Eigen¬
thum des Andern, sondern er läßt durch den Blick desselben bis in die inner¬
sten Tiefen seiner Seele dringen, weil es darin keine Falten giebt, in denen
sich etwas, besser mit Dunkel bedecktes, verbergen könnte. So wurzelt die
deutsche Ehrlichkeit auf dem schönsten Glauben des deutschen Gemüthes an
die Güte der menschlichen Natur in diesem Individuum und allen andern.
Sie kann daher wohl oft betrogen, aber nicht zerstört werden, wo sie wirklich
die Grundstimmung der Seele bildet.

Jede solche Abstraction läßt dem Zufall der concreten Erscheinungen noch den
weitesten Spielraum. Nicht alle Römer möchte man als viri torws At^no strenui
bezeichnen und auch unsere Nationaltugend bildet, wo sie vorhanden oder ihr Vor¬
handensein geglaubt ist, nimmer einen Gegenstand besonderer Anerkennung, wo¬
mit schon gesagt wird, wie es sich in der Wirklichkeit des Lebens damit verhält.
Aber unzweifelhaft giebt das Bewußtsein, einem Volke anzugehören, dem diese
Tugend als die höchste gilt, ihr die Kraft zu einer Propaganda auch in den
Gemüthern und Gewissen mancher Menschen, deren Naturell durch allerlei we¬
niger durchsichtige Ingredienzen an sich nicht sehr geeignet sein würde, gerade
ihrem Dienste sich zu widmen oder doch wenigstens Versuche zu machen, auch
in die Zahl derjenigen aufgenommen zu werden. die ohne solche Hindernisse
in allen Fällen den schlichten Weg dieser Ehrlichkeit wandeln. Jedem ist es
doch immer um die Achtung seiner nächsten Umgebung zu thun, so lange er
noch nicht in die Klasse der sittlich verworfenen und rechtlich geächteten gehört.
Ehrlichkeit aber ist bei uns das sicherste Mittel sie zu verdienen: es ist die
Tugend, die eben weil sie als die deutsche Grundtugend giltV von Jedermann
verstanden wird. Es ist so recht die Tugend des gemeinen Mannes, der
ihre zarten und geschmückteren Schwestern meist auch dann nicht einmal dem
Namen nach kennt, wenn er ihnen in seiner eigenen Lebenspraxis oft treulicher
als sein hochgebildeter Nachbar dient. In diesem Kreise des eigentlichen Volkes,
tritt an der Leibtugend doch wieder eine Seite als besonders bevorzugt heraus.
Es ist jene auf das Verhalten gegen das Eigenthum und die materiellen In¬
dessen des Andern gerichtete. Gewiß ist es die für das praktische Leben und
seine viel verschlungenen Beziehungen wesentlichste und nützlichste und solange
die Volksstimme die Ehrlichkeit auch nur in dieser Beschränkung zum Maßstab
der Werthschätzung der Menschen macht, steht es um eine der Grundbeding¬
ungen der bürgerlichen Wohlfahrt und der Volksgestttung gut.

Eben so lange man "ehrliche Arbeit" in dem ächten alten Sinne versteht,
wo es nicht bloß eine Leistung des Arbeitenden bedeutet, womit aber in deren
Gefolge kein nachweisbarer Betrug oder Uebervortheilung an dem Arbeitgeber
verübt wird, sondern eine solche, die alles das an Soltduät, Fleiß und Brauch-


Der Ehrliche in diesem Sinn vergreift sich nicht bloß nicht an dem Eigen¬
thum des Andern, sondern er läßt durch den Blick desselben bis in die inner¬
sten Tiefen seiner Seele dringen, weil es darin keine Falten giebt, in denen
sich etwas, besser mit Dunkel bedecktes, verbergen könnte. So wurzelt die
deutsche Ehrlichkeit auf dem schönsten Glauben des deutschen Gemüthes an
die Güte der menschlichen Natur in diesem Individuum und allen andern.
Sie kann daher wohl oft betrogen, aber nicht zerstört werden, wo sie wirklich
die Grundstimmung der Seele bildet.

Jede solche Abstraction läßt dem Zufall der concreten Erscheinungen noch den
weitesten Spielraum. Nicht alle Römer möchte man als viri torws At^no strenui
bezeichnen und auch unsere Nationaltugend bildet, wo sie vorhanden oder ihr Vor¬
handensein geglaubt ist, nimmer einen Gegenstand besonderer Anerkennung, wo¬
mit schon gesagt wird, wie es sich in der Wirklichkeit des Lebens damit verhält.
Aber unzweifelhaft giebt das Bewußtsein, einem Volke anzugehören, dem diese
Tugend als die höchste gilt, ihr die Kraft zu einer Propaganda auch in den
Gemüthern und Gewissen mancher Menschen, deren Naturell durch allerlei we¬
niger durchsichtige Ingredienzen an sich nicht sehr geeignet sein würde, gerade
ihrem Dienste sich zu widmen oder doch wenigstens Versuche zu machen, auch
in die Zahl derjenigen aufgenommen zu werden. die ohne solche Hindernisse
in allen Fällen den schlichten Weg dieser Ehrlichkeit wandeln. Jedem ist es
doch immer um die Achtung seiner nächsten Umgebung zu thun, so lange er
noch nicht in die Klasse der sittlich verworfenen und rechtlich geächteten gehört.
Ehrlichkeit aber ist bei uns das sicherste Mittel sie zu verdienen: es ist die
Tugend, die eben weil sie als die deutsche Grundtugend giltV von Jedermann
verstanden wird. Es ist so recht die Tugend des gemeinen Mannes, der
ihre zarten und geschmückteren Schwestern meist auch dann nicht einmal dem
Namen nach kennt, wenn er ihnen in seiner eigenen Lebenspraxis oft treulicher
als sein hochgebildeter Nachbar dient. In diesem Kreise des eigentlichen Volkes,
tritt an der Leibtugend doch wieder eine Seite als besonders bevorzugt heraus.
Es ist jene auf das Verhalten gegen das Eigenthum und die materiellen In¬
dessen des Andern gerichtete. Gewiß ist es die für das praktische Leben und
seine viel verschlungenen Beziehungen wesentlichste und nützlichste und solange
die Volksstimme die Ehrlichkeit auch nur in dieser Beschränkung zum Maßstab
der Werthschätzung der Menschen macht, steht es um eine der Grundbeding¬
ungen der bürgerlichen Wohlfahrt und der Volksgestttung gut.

Eben so lange man „ehrliche Arbeit" in dem ächten alten Sinne versteht,
wo es nicht bloß eine Leistung des Arbeitenden bedeutet, womit aber in deren
Gefolge kein nachweisbarer Betrug oder Uebervortheilung an dem Arbeitgeber
verübt wird, sondern eine solche, die alles das an Soltduät, Fleiß und Brauch-


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[0486] Der Ehrliche in diesem Sinn vergreift sich nicht bloß nicht an dem Eigen¬ thum des Andern, sondern er läßt durch den Blick desselben bis in die inner¬ sten Tiefen seiner Seele dringen, weil es darin keine Falten giebt, in denen sich etwas, besser mit Dunkel bedecktes, verbergen könnte. So wurzelt die deutsche Ehrlichkeit auf dem schönsten Glauben des deutschen Gemüthes an die Güte der menschlichen Natur in diesem Individuum und allen andern. Sie kann daher wohl oft betrogen, aber nicht zerstört werden, wo sie wirklich die Grundstimmung der Seele bildet. Jede solche Abstraction läßt dem Zufall der concreten Erscheinungen noch den weitesten Spielraum. Nicht alle Römer möchte man als viri torws At^no strenui bezeichnen und auch unsere Nationaltugend bildet, wo sie vorhanden oder ihr Vor¬ handensein geglaubt ist, nimmer einen Gegenstand besonderer Anerkennung, wo¬ mit schon gesagt wird, wie es sich in der Wirklichkeit des Lebens damit verhält. Aber unzweifelhaft giebt das Bewußtsein, einem Volke anzugehören, dem diese Tugend als die höchste gilt, ihr die Kraft zu einer Propaganda auch in den Gemüthern und Gewissen mancher Menschen, deren Naturell durch allerlei we¬ niger durchsichtige Ingredienzen an sich nicht sehr geeignet sein würde, gerade ihrem Dienste sich zu widmen oder doch wenigstens Versuche zu machen, auch in die Zahl derjenigen aufgenommen zu werden. die ohne solche Hindernisse in allen Fällen den schlichten Weg dieser Ehrlichkeit wandeln. Jedem ist es doch immer um die Achtung seiner nächsten Umgebung zu thun, so lange er noch nicht in die Klasse der sittlich verworfenen und rechtlich geächteten gehört. Ehrlichkeit aber ist bei uns das sicherste Mittel sie zu verdienen: es ist die Tugend, die eben weil sie als die deutsche Grundtugend giltV von Jedermann verstanden wird. Es ist so recht die Tugend des gemeinen Mannes, der ihre zarten und geschmückteren Schwestern meist auch dann nicht einmal dem Namen nach kennt, wenn er ihnen in seiner eigenen Lebenspraxis oft treulicher als sein hochgebildeter Nachbar dient. In diesem Kreise des eigentlichen Volkes, tritt an der Leibtugend doch wieder eine Seite als besonders bevorzugt heraus. Es ist jene auf das Verhalten gegen das Eigenthum und die materiellen In¬ dessen des Andern gerichtete. Gewiß ist es die für das praktische Leben und seine viel verschlungenen Beziehungen wesentlichste und nützlichste und solange die Volksstimme die Ehrlichkeit auch nur in dieser Beschränkung zum Maßstab der Werthschätzung der Menschen macht, steht es um eine der Grundbeding¬ ungen der bürgerlichen Wohlfahrt und der Volksgestttung gut. Eben so lange man „ehrliche Arbeit" in dem ächten alten Sinne versteht, wo es nicht bloß eine Leistung des Arbeitenden bedeutet, womit aber in deren Gefolge kein nachweisbarer Betrug oder Uebervortheilung an dem Arbeitgeber verübt wird, sondern eine solche, die alles das an Soltduät, Fleiß und Brauch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/486>, abgerufen am 29.06.2024.