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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Die Sage eines Volkes ist unendlich reich, denn Jahrtausende weben
daran und wirken die Weltgeschicke als mystische Runen hinein. Mit ehr¬
fürchtiger Scheu will sie betrachtet sein, wenn sie ihre Geheimnisse enthüllen
soll, aber auch flüchtige Leser lockt der Glanz und die unerschöpfliche Fülle
der wunderbaren Erscheinung. Von der Kalewidensage haben wir nur
wenige Züge hier festhalten können, möchte gerade dieser Mangel dazu bei¬
tragen, der Bearbeitung Grosse's Leser und Freunde zuzuführen!


I- H-


Deutsche Lljri'ichKeit und deutsche ehrliche Arbeit.*)

Heinrich Leo, der oft so geistvolle Blicke in das Seelenleben der Völker
zu thun pflegt, spricht einmal besonders geistvoll von dem, was man das
Centraldogma eines Volkes von sich selbst nennen könnte. Jedes Volk nämlich
fühlt in seinem Wesen eine moralische Eigenschaft heraus, die in dieser Stärke
und eigenthümlichen Färbung nach seinem Glauben nur ihm zugehört und
eignet sie sich demgemäß als seine providentielle Mitgift zu. Der Jnstinct
des Volksgeistes geht dabei immer sicher, wie sich schon daran erkennen läßt,
daß die Fremden, wenn sie wohlwollender Gesinnung sind, gerade dieser speci¬
fischen Nationaltugend das Schlagwort zu einer zusammengesetzten Charak¬
teristik des betreffenden Volkes entnehmen, wenn übler Gesinnung, dieselbe zu
einer Cciricatur seines ganzen Wesens verdrehen. Wenn der Grieche seine
Kalokagathie für sich beanspruchte. der Römer vorzugsweise ein vis kortis
atqus streiuius heißen wollte, der Franzose die bravour für die französische
Cardinaltugend hält, der Spanier seine gi-ana^a, der Engländer die rssxee-
tÄdilitz?, so wird jeder unbefangene Beobachter jedem von ihnen Recht geben.
Wie sehr diese Cardinalnationaltugenden ihrem Boden und nur ihrem Boden
ausschließlich anhaften, läßt sich aus einer scheinbar bloß linguistischen Be¬
merkung abnehmen. Keines dieser Schlagworte kann in seiner vollen Kraft
unmittelbar in irgend eine fremde Sprache übertragen werden. Jedem solchem
Uebersetzungsversuch müßte erst eine oft weitläufige Glosse Seele und Blut und
damit Lebensfähigkeit geben. Schön und Gutsein "oder Schönheit und Tüch¬
tigkeit," was noch etwas besser klingt und daneben die Kalokogathie des



') Dieser Artikel war bereits gesetzt, als uns die Nachricht vom Tode seines Verfassers
zuging. Wir verlieren in Heinrich Rückert einen unsrer ältesten treuesten Mitarbeiter,
Deutschland einen seiner besten Patrioten und Gelehrten. Sein Nekrolog erscheint in einer der
D. Und. d. Grzb. nächsten Nummern.

Die Sage eines Volkes ist unendlich reich, denn Jahrtausende weben
daran und wirken die Weltgeschicke als mystische Runen hinein. Mit ehr¬
fürchtiger Scheu will sie betrachtet sein, wenn sie ihre Geheimnisse enthüllen
soll, aber auch flüchtige Leser lockt der Glanz und die unerschöpfliche Fülle
der wunderbaren Erscheinung. Von der Kalewidensage haben wir nur
wenige Züge hier festhalten können, möchte gerade dieser Mangel dazu bei¬
tragen, der Bearbeitung Grosse's Leser und Freunde zuzuführen!


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Deutsche Lljri'ichKeit und deutsche ehrliche Arbeit.*)

Heinrich Leo, der oft so geistvolle Blicke in das Seelenleben der Völker
zu thun pflegt, spricht einmal besonders geistvoll von dem, was man das
Centraldogma eines Volkes von sich selbst nennen könnte. Jedes Volk nämlich
fühlt in seinem Wesen eine moralische Eigenschaft heraus, die in dieser Stärke
und eigenthümlichen Färbung nach seinem Glauben nur ihm zugehört und
eignet sie sich demgemäß als seine providentielle Mitgift zu. Der Jnstinct
des Volksgeistes geht dabei immer sicher, wie sich schon daran erkennen läßt,
daß die Fremden, wenn sie wohlwollender Gesinnung sind, gerade dieser speci¬
fischen Nationaltugend das Schlagwort zu einer zusammengesetzten Charak¬
teristik des betreffenden Volkes entnehmen, wenn übler Gesinnung, dieselbe zu
einer Cciricatur seines ganzen Wesens verdrehen. Wenn der Grieche seine
Kalokagathie für sich beanspruchte. der Römer vorzugsweise ein vis kortis
atqus streiuius heißen wollte, der Franzose die bravour für die französische
Cardinaltugend hält, der Spanier seine gi-ana^a, der Engländer die rssxee-
tÄdilitz?, so wird jeder unbefangene Beobachter jedem von ihnen Recht geben.
Wie sehr diese Cardinalnationaltugenden ihrem Boden und nur ihrem Boden
ausschließlich anhaften, läßt sich aus einer scheinbar bloß linguistischen Be¬
merkung abnehmen. Keines dieser Schlagworte kann in seiner vollen Kraft
unmittelbar in irgend eine fremde Sprache übertragen werden. Jedem solchem
Uebersetzungsversuch müßte erst eine oft weitläufige Glosse Seele und Blut und
damit Lebensfähigkeit geben. Schön und Gutsein „oder Schönheit und Tüch¬
tigkeit," was noch etwas besser klingt und daneben die Kalokogathie des



') Dieser Artikel war bereits gesetzt, als uns die Nachricht vom Tode seines Verfassers
zuging. Wir verlieren in Heinrich Rückert einen unsrer ältesten treuesten Mitarbeiter,
Deutschland einen seiner besten Patrioten und Gelehrten. Sein Nekrolog erscheint in einer der
D. Und. d. Grzb. nächsten Nummern.
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[0484] Die Sage eines Volkes ist unendlich reich, denn Jahrtausende weben daran und wirken die Weltgeschicke als mystische Runen hinein. Mit ehr¬ fürchtiger Scheu will sie betrachtet sein, wenn sie ihre Geheimnisse enthüllen soll, aber auch flüchtige Leser lockt der Glanz und die unerschöpfliche Fülle der wunderbaren Erscheinung. Von der Kalewidensage haben wir nur wenige Züge hier festhalten können, möchte gerade dieser Mangel dazu bei¬ tragen, der Bearbeitung Grosse's Leser und Freunde zuzuführen! I- H- Deutsche Lljri'ichKeit und deutsche ehrliche Arbeit.*) Heinrich Leo, der oft so geistvolle Blicke in das Seelenleben der Völker zu thun pflegt, spricht einmal besonders geistvoll von dem, was man das Centraldogma eines Volkes von sich selbst nennen könnte. Jedes Volk nämlich fühlt in seinem Wesen eine moralische Eigenschaft heraus, die in dieser Stärke und eigenthümlichen Färbung nach seinem Glauben nur ihm zugehört und eignet sie sich demgemäß als seine providentielle Mitgift zu. Der Jnstinct des Volksgeistes geht dabei immer sicher, wie sich schon daran erkennen läßt, daß die Fremden, wenn sie wohlwollender Gesinnung sind, gerade dieser speci¬ fischen Nationaltugend das Schlagwort zu einer zusammengesetzten Charak¬ teristik des betreffenden Volkes entnehmen, wenn übler Gesinnung, dieselbe zu einer Cciricatur seines ganzen Wesens verdrehen. Wenn der Grieche seine Kalokagathie für sich beanspruchte. der Römer vorzugsweise ein vis kortis atqus streiuius heißen wollte, der Franzose die bravour für die französische Cardinaltugend hält, der Spanier seine gi-ana^a, der Engländer die rssxee- tÄdilitz?, so wird jeder unbefangene Beobachter jedem von ihnen Recht geben. Wie sehr diese Cardinalnationaltugenden ihrem Boden und nur ihrem Boden ausschließlich anhaften, läßt sich aus einer scheinbar bloß linguistischen Be¬ merkung abnehmen. Keines dieser Schlagworte kann in seiner vollen Kraft unmittelbar in irgend eine fremde Sprache übertragen werden. Jedem solchem Uebersetzungsversuch müßte erst eine oft weitläufige Glosse Seele und Blut und damit Lebensfähigkeit geben. Schön und Gutsein „oder Schönheit und Tüch¬ tigkeit," was noch etwas besser klingt und daneben die Kalokogathie des ') Dieser Artikel war bereits gesetzt, als uns die Nachricht vom Tode seines Verfassers zuging. Wir verlieren in Heinrich Rückert einen unsrer ältesten treuesten Mitarbeiter, Deutschland einen seiner besten Patrioten und Gelehrten. Sein Nekrolog erscheint in einer der D. Und. d. Grzb. nächsten Nummern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/484>, abgerufen am 29.06.2024.