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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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waltet. Einen ungeheuern Pflug läßt er sich bauen, spannt einen riesigen
Ackerschimmel mit goldnen Mähnen -- ein Geschenk des Gottes Taara --
davor und zieht die Furchen zur Kornsaat. Dann kommen die Sümpfe
daran. Der tückische Wassergott, von Seetang umkränzt, den Kopf mit Flie¬
genschwämmen bewachsen, hebt sich zürnend aus den Fluten, auch gelingt es
ihm wol, einen frischen Knaben in seine feuchte Wohnung hinabzuziehn, aber
schließlich muß er weichen. Die Wälder werden gelichtet, die Raubthiere
verjagt, daß sie heulend in die ewigen Eiswüsten fliehen, und endlich krönt
der Held sein Culturwerk durch die Gründung fester Städte. Damit ist nach
dieser Seite die Sage abgeschlossen. Ob bald darauf die Selbstherrlichkeit des
Esthenvolkes gebrochen wurde, wissen wir nicht. Von Versammlung der
freien Männer zum Ding, von Recht und Waldgang wird uns nichts mehr
gemeldet.

Aber diese Thaten, in welchen die lange Arbeit eines Ansiedlervolkes ver¬
sinnbildlicht wird, gehen auch im Liede nicht gar zu rasch vor sich. Es ist
ein merkwürdiger Zug an dem tapfern Kalew, daß er, so oft nicht ganz
dringendes seine Kräfte in Anspruch nimmt -- schläft und zwar als Riese,
der er ist, Wochen- --, ja mondenlang, obendrein mit solchem Schnarchen,
"daß die Bären sich im Föhrenwald verkrochen."

Die Esthen sollen mongolischen Ursprunges sein, und in der That er¬
innert mancher monströse Zug, den die Sage noch nicht abgeschliffen hat, daß
sie der asiatischen Heimat näher stehen als wir. Aber ebensowenig läßt sich
leugnen, daß zwischen ihren und unsern altdeutschen, den nordischen und an¬
tiken Mythen eine sehr auffallende Verwandtschaft besteht. Auf Schritt und
Tritt begegnen wir in der Kalewidensage neu und fremdartig geputzten --
lieben alten Bekannten. Manches davon mag dem neuen Bearbeiter ange¬
hören, welcher die Lücken der Ueberlieferung aus verwandten Dichtungen, wie
der finnischen Kalewala, zu ergänzen hatte, die auffälligsten Züge finden
sich aber in den alten Bruchstücken selbst. Es klingt und singt nach der Esthen-
sage wie ein Lied aus der "östlichen Gartenheimath" des Menschengeschlechts.
Die Thaten und Fahrten, die Ungeheuer, die Symbole, welche wir bei den
ältesten Völkern Asiens und Südeuropas finden -- alle kehren hier wieder:
Das Erdbeben ein in seine Fesseln reißender Titan. die Windsbraut,
das Blasen eines Zauberers, die Besänftigung des wallenden Meeres durch
Schelten und Drohen. Wenn Vater Kalew auf einem Adler nach Esthland
kommt, so werden wir erinnert, daß Hagen, der Ahn Kudruns, von einem
Greifen zur Braut geführt wird. Kalew's Thaten im Einzelnen erinnern
nicht blos an Herkules, sondern bald auch an Jason, Odysseus, Siegfried oder
Asathor. Aus der Saat der Drachenzähne schießen geharnischte Männer auf,
die den Sohn des Aeson anfallen: gegen Kalew blaße ein Hexenmeister Vogel-


waltet. Einen ungeheuern Pflug läßt er sich bauen, spannt einen riesigen
Ackerschimmel mit goldnen Mähnen — ein Geschenk des Gottes Taara —
davor und zieht die Furchen zur Kornsaat. Dann kommen die Sümpfe
daran. Der tückische Wassergott, von Seetang umkränzt, den Kopf mit Flie¬
genschwämmen bewachsen, hebt sich zürnend aus den Fluten, auch gelingt es
ihm wol, einen frischen Knaben in seine feuchte Wohnung hinabzuziehn, aber
schließlich muß er weichen. Die Wälder werden gelichtet, die Raubthiere
verjagt, daß sie heulend in die ewigen Eiswüsten fliehen, und endlich krönt
der Held sein Culturwerk durch die Gründung fester Städte. Damit ist nach
dieser Seite die Sage abgeschlossen. Ob bald darauf die Selbstherrlichkeit des
Esthenvolkes gebrochen wurde, wissen wir nicht. Von Versammlung der
freien Männer zum Ding, von Recht und Waldgang wird uns nichts mehr
gemeldet.

Aber diese Thaten, in welchen die lange Arbeit eines Ansiedlervolkes ver¬
sinnbildlicht wird, gehen auch im Liede nicht gar zu rasch vor sich. Es ist
ein merkwürdiger Zug an dem tapfern Kalew, daß er, so oft nicht ganz
dringendes seine Kräfte in Anspruch nimmt — schläft und zwar als Riese,
der er ist, Wochen- —, ja mondenlang, obendrein mit solchem Schnarchen,
„daß die Bären sich im Föhrenwald verkrochen."

Die Esthen sollen mongolischen Ursprunges sein, und in der That er¬
innert mancher monströse Zug, den die Sage noch nicht abgeschliffen hat, daß
sie der asiatischen Heimat näher stehen als wir. Aber ebensowenig läßt sich
leugnen, daß zwischen ihren und unsern altdeutschen, den nordischen und an¬
tiken Mythen eine sehr auffallende Verwandtschaft besteht. Auf Schritt und
Tritt begegnen wir in der Kalewidensage neu und fremdartig geputzten —
lieben alten Bekannten. Manches davon mag dem neuen Bearbeiter ange¬
hören, welcher die Lücken der Ueberlieferung aus verwandten Dichtungen, wie
der finnischen Kalewala, zu ergänzen hatte, die auffälligsten Züge finden
sich aber in den alten Bruchstücken selbst. Es klingt und singt nach der Esthen-
sage wie ein Lied aus der „östlichen Gartenheimath" des Menschengeschlechts.
Die Thaten und Fahrten, die Ungeheuer, die Symbole, welche wir bei den
ältesten Völkern Asiens und Südeuropas finden — alle kehren hier wieder:
Das Erdbeben ein in seine Fesseln reißender Titan. die Windsbraut,
das Blasen eines Zauberers, die Besänftigung des wallenden Meeres durch
Schelten und Drohen. Wenn Vater Kalew auf einem Adler nach Esthland
kommt, so werden wir erinnert, daß Hagen, der Ahn Kudruns, von einem
Greifen zur Braut geführt wird. Kalew's Thaten im Einzelnen erinnern
nicht blos an Herkules, sondern bald auch an Jason, Odysseus, Siegfried oder
Asathor. Aus der Saat der Drachenzähne schießen geharnischte Männer auf,
die den Sohn des Aeson anfallen: gegen Kalew blaße ein Hexenmeister Vogel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/482>, abgerufen am 29.06.2024.