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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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die hellen Schnüre von Silberperlen um den Hals, wandern die drei Brüder
landeinwärts, um einen Platz zum Beginne des Kampfspiels aufzusuchen.
Lange irren sie^ vergeblich umher und spähen endlich wegesmüde nach einer
Ruhestätte. Da sehen sie ein Gehöfte aus hohen Linden hervorragen, auf
der Schwelle des Hauses sitzt die Mutter, von der Zaunpforte her ruft der
Vater den Gästen Willkommen entgegen, indem er die prächtig Gekleideten
für heiratslustige Werber hält. Zwar entgegnet der älteste Kalewide würde¬
voll: Noch gedenken wir nicht an Bräute, "denn das Holz zu unsern Häusern,
unsern Betten, unsern Tischen grünt wohl noch im hohen Walde," doch der
zweite fällt ein: "Aber zum Plaudern und Scherzen bringt die holden Töchter
doch herbei, zu den Birkenschaukeln auf den Rasen, zu Tanz und Federball¬
spiel, denn die Sommernacht ist lange, und die Sonne geht heute nicht unter."
Da erschienen denn die lachenden Mädchen; "wenn sie tanzend vorwärts
schritten, flog das Band an Haar und Kleide, wenn sie rückwärts sich be¬
wegten, klapperte das Halsgeschmeide." Mit einem fröhlichen Gelage, bei
welchem Kibitzeier, Honig und Bärenschinken aufgetragen werden, endigt dieser
esthnische Sommernachtstraum. -- Am dritten Tage erreichen die Brüder die
Stelle, wo heute Dorpat liegt; da funkelt ihnen aus hohen Föhren ein
lachender See, mit Wasserlinsen besäet, von wilden Schwänen bevölkert, ent¬
gegen. Ihn erwählten sie zur Wurfbahn, die zackigen Felsbrocken, die am
Ufer liegen, zu Geschossen. Linda's Jüngstgeborner ist es, dem der Sieg
zufällt. Da weihen ihn die prüder durch, ein Bad im See zum Herrscher
über Esthland und nehmen dann Abschied von der Heimat, um in weite
Ferne auszuwandern:


"Lebet Berge wohl und Thäler. Sehnsucht soll uns nicht verzehren.
Was den Knaben lieb gewesen, darf der Mann nicht mehr begehren.
Sei unwirthbar auch die Erde und der Himmel unerreichbar,
Niemals zagen darf der Starke, denn sein Muth ist unvergleichbar."
Also sangen sie und zogen in die Fernen und für immer. --
Ihre Spuren fand der Enkel in dem Heimathlande nimmer.

Wen umweht es nicht bei diesem elegisch-muthigen Gesänge wie ein Hauch
aus jenem Kindheitsalter der Menschheit, da Abram zu Lot sprach: "Laß
nicht Zank sein zwischen mir und dir, und zwischen meinen und deinen Hirten.
Stehet dir nicht alles Land offen? Lieber, scheide dich von mir." -- Nicht un¬
wahrscheinlich, daß in dieser Erzählung eine uralte Volksbewegung nachhallt,
vielleicht eine Erinnerung an die Zeit der Völkerwanderung, in welcher die
Esthen, soviel bekannt, ruhig in ihren Sitzen hafteten, während manches Bru¬
dervolk in die Ströme hineingerissen wurde und für die Zurückgebliebenen
verscholl: "Ihre Spuren fand der Enkel in dem Heimatlande nimmer."

Nun schildert die Sage des Weiteren, wie der neue König über Esthland


Grenzboten III. 187S. 60

die hellen Schnüre von Silberperlen um den Hals, wandern die drei Brüder
landeinwärts, um einen Platz zum Beginne des Kampfspiels aufzusuchen.
Lange irren sie^ vergeblich umher und spähen endlich wegesmüde nach einer
Ruhestätte. Da sehen sie ein Gehöfte aus hohen Linden hervorragen, auf
der Schwelle des Hauses sitzt die Mutter, von der Zaunpforte her ruft der
Vater den Gästen Willkommen entgegen, indem er die prächtig Gekleideten
für heiratslustige Werber hält. Zwar entgegnet der älteste Kalewide würde¬
voll: Noch gedenken wir nicht an Bräute, „denn das Holz zu unsern Häusern,
unsern Betten, unsern Tischen grünt wohl noch im hohen Walde," doch der
zweite fällt ein: „Aber zum Plaudern und Scherzen bringt die holden Töchter
doch herbei, zu den Birkenschaukeln auf den Rasen, zu Tanz und Federball¬
spiel, denn die Sommernacht ist lange, und die Sonne geht heute nicht unter."
Da erschienen denn die lachenden Mädchen; „wenn sie tanzend vorwärts
schritten, flog das Band an Haar und Kleide, wenn sie rückwärts sich be¬
wegten, klapperte das Halsgeschmeide." Mit einem fröhlichen Gelage, bei
welchem Kibitzeier, Honig und Bärenschinken aufgetragen werden, endigt dieser
esthnische Sommernachtstraum. — Am dritten Tage erreichen die Brüder die
Stelle, wo heute Dorpat liegt; da funkelt ihnen aus hohen Föhren ein
lachender See, mit Wasserlinsen besäet, von wilden Schwänen bevölkert, ent¬
gegen. Ihn erwählten sie zur Wurfbahn, die zackigen Felsbrocken, die am
Ufer liegen, zu Geschossen. Linda's Jüngstgeborner ist es, dem der Sieg
zufällt. Da weihen ihn die prüder durch, ein Bad im See zum Herrscher
über Esthland und nehmen dann Abschied von der Heimat, um in weite
Ferne auszuwandern:


„Lebet Berge wohl und Thäler. Sehnsucht soll uns nicht verzehren.
Was den Knaben lieb gewesen, darf der Mann nicht mehr begehren.
Sei unwirthbar auch die Erde und der Himmel unerreichbar,
Niemals zagen darf der Starke, denn sein Muth ist unvergleichbar."
Also sangen sie und zogen in die Fernen und für immer. —
Ihre Spuren fand der Enkel in dem Heimathlande nimmer.

Wen umweht es nicht bei diesem elegisch-muthigen Gesänge wie ein Hauch
aus jenem Kindheitsalter der Menschheit, da Abram zu Lot sprach: „Laß
nicht Zank sein zwischen mir und dir, und zwischen meinen und deinen Hirten.
Stehet dir nicht alles Land offen? Lieber, scheide dich von mir." — Nicht un¬
wahrscheinlich, daß in dieser Erzählung eine uralte Volksbewegung nachhallt,
vielleicht eine Erinnerung an die Zeit der Völkerwanderung, in welcher die
Esthen, soviel bekannt, ruhig in ihren Sitzen hafteten, während manches Bru¬
dervolk in die Ströme hineingerissen wurde und für die Zurückgebliebenen
verscholl: „Ihre Spuren fand der Enkel in dem Heimatlande nimmer."

Nun schildert die Sage des Weiteren, wie der neue König über Esthland


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[0481] die hellen Schnüre von Silberperlen um den Hals, wandern die drei Brüder landeinwärts, um einen Platz zum Beginne des Kampfspiels aufzusuchen. Lange irren sie^ vergeblich umher und spähen endlich wegesmüde nach einer Ruhestätte. Da sehen sie ein Gehöfte aus hohen Linden hervorragen, auf der Schwelle des Hauses sitzt die Mutter, von der Zaunpforte her ruft der Vater den Gästen Willkommen entgegen, indem er die prächtig Gekleideten für heiratslustige Werber hält. Zwar entgegnet der älteste Kalewide würde¬ voll: Noch gedenken wir nicht an Bräute, „denn das Holz zu unsern Häusern, unsern Betten, unsern Tischen grünt wohl noch im hohen Walde," doch der zweite fällt ein: „Aber zum Plaudern und Scherzen bringt die holden Töchter doch herbei, zu den Birkenschaukeln auf den Rasen, zu Tanz und Federball¬ spiel, denn die Sommernacht ist lange, und die Sonne geht heute nicht unter." Da erschienen denn die lachenden Mädchen; „wenn sie tanzend vorwärts schritten, flog das Band an Haar und Kleide, wenn sie rückwärts sich be¬ wegten, klapperte das Halsgeschmeide." Mit einem fröhlichen Gelage, bei welchem Kibitzeier, Honig und Bärenschinken aufgetragen werden, endigt dieser esthnische Sommernachtstraum. — Am dritten Tage erreichen die Brüder die Stelle, wo heute Dorpat liegt; da funkelt ihnen aus hohen Föhren ein lachender See, mit Wasserlinsen besäet, von wilden Schwänen bevölkert, ent¬ gegen. Ihn erwählten sie zur Wurfbahn, die zackigen Felsbrocken, die am Ufer liegen, zu Geschossen. Linda's Jüngstgeborner ist es, dem der Sieg zufällt. Da weihen ihn die prüder durch, ein Bad im See zum Herrscher über Esthland und nehmen dann Abschied von der Heimat, um in weite Ferne auszuwandern: „Lebet Berge wohl und Thäler. Sehnsucht soll uns nicht verzehren. Was den Knaben lieb gewesen, darf der Mann nicht mehr begehren. Sei unwirthbar auch die Erde und der Himmel unerreichbar, Niemals zagen darf der Starke, denn sein Muth ist unvergleichbar." Also sangen sie und zogen in die Fernen und für immer. — Ihre Spuren fand der Enkel in dem Heimathlande nimmer. Wen umweht es nicht bei diesem elegisch-muthigen Gesänge wie ein Hauch aus jenem Kindheitsalter der Menschheit, da Abram zu Lot sprach: „Laß nicht Zank sein zwischen mir und dir, und zwischen meinen und deinen Hirten. Stehet dir nicht alles Land offen? Lieber, scheide dich von mir." — Nicht un¬ wahrscheinlich, daß in dieser Erzählung eine uralte Volksbewegung nachhallt, vielleicht eine Erinnerung an die Zeit der Völkerwanderung, in welcher die Esthen, soviel bekannt, ruhig in ihren Sitzen hafteten, während manches Bru¬ dervolk in die Ströme hineingerissen wurde und für die Zurückgebliebenen verscholl: „Ihre Spuren fand der Enkel in dem Heimatlande nimmer." Nun schildert die Sage des Weiteren, wie der neue König über Esthland Grenzboten III. 187S. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/481>, abgerufen am 29.06.2024.