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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Es kann nicht unsre Absicht sein, dem Dichter nachzuerzählen. Den
Zauber seiner lief poetischen Darstellung wird empfinden wer das Buch selbst
zur Hand nimmt. Wir wollen nur durch einige kurze Auszüge auf den
kulturhistorischen Inhalt der Sage aufmerksam machen.

In uralten Zeiten, so beginnt das Lied, kam einst ein Adler von Nor¬
den geflogen, der einen Mann mit Namen Kalew an Esthlands Felsenküste
absetzte. Der Ankömmling wurde König im Lande und nahm zum Weibe
die Tochter eines Birkhuhns, ein Mädchen schön wie der Tag, welches Linda
hieß. Erst nach dem Tode des Königs gebar die Witwe ihren jüngsten Sohn,
den Helden der Sage, den sie in trauernder Erinnerung mit dem Namen
seines Vaters taufte. "Linda's Trauerknabe ist es, den die Winde gehen
lehren, Regenschauer wachsen machen, und die Waldesquellen nähren." sa¬
genhafte Helden stammen immer von guten Eltern ab, Kalew aber wird bald
in Noth und Elend hineingestoßen. Nun durchwandert er alle Länder, welche
im Gesichtskreise des Esthen liegen, Livland, Schweden, Finnland: das
Lied zeigt uns den unwirthlichen Zustand vor der Einwandrung seines Volkes.
Noch ist der freie Boden den Menschen nicht dienstbar geworden. Tagelang
geht der Kalewide, um den berühmten Schmied, Meister Rnßbart, aufzusuchen,
querfeldein, bald über braune Haide, bald über schwarzes Nebelmoor, durch
Hasel- und Birkenhaine, in welchen der Auerhahn vor ihm auffliegt, dann
durch düstre Fichtenwälder, wo das Schwarzwild grunzt und die Wölfe mit
heiseren Gebelle ihn anfallen -- überall die tiefste Oede. Und wenn der
Hüne nicht aus dem Dickicht emporragte, wie ein Mensch von heute aus dem
Roggen, so wäre auch er nicht durchgekommen. Endlich, nachdem er manchen
reißenden Wildbach durchschritten, gelangt er zu der Meisterschmiede, die tief
in eine Felsenhöhle eingebaut ist. Denn hölzerne Häuser sind noch eine
Seltenheit, ein sehr kluger Zauberer in Finnland hat ein solches "nach dem
Hexentopf gerichtet." Allerdings wird gleich eins in Esthland und zwar ein
sehr reiches vorkommen, wie denn auch schon auf Linda's Hochzeit die Gäste
den Estrich bis zum Morast getanzt hatten, so daß die Wände erzitterten --
das sind Widersprüche, deren das Epos nun einmal nicht entrathen kann.
Als nun der Held nach manchem Abenteuer heimkehrt, empfangen ihn seine
Brüder mit der Frage, wie es mit dem Fürstensohn gehalten werden solle,
denn nicht mehrere können, neben einander auf dem Hohsitz thronend, den
Völkern gebieten -- das uralte politische Zwanggebot, dem schon der Sänger
der Ilias Ausdruck gab:


Niemals frommt Vielherrschaft im Volk, nur Einer sei Herrscher,
Einer König allein! --

Die Erzählung, wie sie nun zur Königskur sich aufmachen, hat einen
eigenen poetischen Reiz. Schön geschmückt in seidnen, goldbetreßten Röcken,


Es kann nicht unsre Absicht sein, dem Dichter nachzuerzählen. Den
Zauber seiner lief poetischen Darstellung wird empfinden wer das Buch selbst
zur Hand nimmt. Wir wollen nur durch einige kurze Auszüge auf den
kulturhistorischen Inhalt der Sage aufmerksam machen.

In uralten Zeiten, so beginnt das Lied, kam einst ein Adler von Nor¬
den geflogen, der einen Mann mit Namen Kalew an Esthlands Felsenküste
absetzte. Der Ankömmling wurde König im Lande und nahm zum Weibe
die Tochter eines Birkhuhns, ein Mädchen schön wie der Tag, welches Linda
hieß. Erst nach dem Tode des Königs gebar die Witwe ihren jüngsten Sohn,
den Helden der Sage, den sie in trauernder Erinnerung mit dem Namen
seines Vaters taufte. „Linda's Trauerknabe ist es, den die Winde gehen
lehren, Regenschauer wachsen machen, und die Waldesquellen nähren." sa¬
genhafte Helden stammen immer von guten Eltern ab, Kalew aber wird bald
in Noth und Elend hineingestoßen. Nun durchwandert er alle Länder, welche
im Gesichtskreise des Esthen liegen, Livland, Schweden, Finnland: das
Lied zeigt uns den unwirthlichen Zustand vor der Einwandrung seines Volkes.
Noch ist der freie Boden den Menschen nicht dienstbar geworden. Tagelang
geht der Kalewide, um den berühmten Schmied, Meister Rnßbart, aufzusuchen,
querfeldein, bald über braune Haide, bald über schwarzes Nebelmoor, durch
Hasel- und Birkenhaine, in welchen der Auerhahn vor ihm auffliegt, dann
durch düstre Fichtenwälder, wo das Schwarzwild grunzt und die Wölfe mit
heiseren Gebelle ihn anfallen — überall die tiefste Oede. Und wenn der
Hüne nicht aus dem Dickicht emporragte, wie ein Mensch von heute aus dem
Roggen, so wäre auch er nicht durchgekommen. Endlich, nachdem er manchen
reißenden Wildbach durchschritten, gelangt er zu der Meisterschmiede, die tief
in eine Felsenhöhle eingebaut ist. Denn hölzerne Häuser sind noch eine
Seltenheit, ein sehr kluger Zauberer in Finnland hat ein solches „nach dem
Hexentopf gerichtet." Allerdings wird gleich eins in Esthland und zwar ein
sehr reiches vorkommen, wie denn auch schon auf Linda's Hochzeit die Gäste
den Estrich bis zum Morast getanzt hatten, so daß die Wände erzitterten —
das sind Widersprüche, deren das Epos nun einmal nicht entrathen kann.
Als nun der Held nach manchem Abenteuer heimkehrt, empfangen ihn seine
Brüder mit der Frage, wie es mit dem Fürstensohn gehalten werden solle,
denn nicht mehrere können, neben einander auf dem Hohsitz thronend, den
Völkern gebieten — das uralte politische Zwanggebot, dem schon der Sänger
der Ilias Ausdruck gab:


Niemals frommt Vielherrschaft im Volk, nur Einer sei Herrscher,
Einer König allein! —

Die Erzählung, wie sie nun zur Königskur sich aufmachen, hat einen
eigenen poetischen Reiz. Schön geschmückt in seidnen, goldbetreßten Röcken,


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[0480] Es kann nicht unsre Absicht sein, dem Dichter nachzuerzählen. Den Zauber seiner lief poetischen Darstellung wird empfinden wer das Buch selbst zur Hand nimmt. Wir wollen nur durch einige kurze Auszüge auf den kulturhistorischen Inhalt der Sage aufmerksam machen. In uralten Zeiten, so beginnt das Lied, kam einst ein Adler von Nor¬ den geflogen, der einen Mann mit Namen Kalew an Esthlands Felsenküste absetzte. Der Ankömmling wurde König im Lande und nahm zum Weibe die Tochter eines Birkhuhns, ein Mädchen schön wie der Tag, welches Linda hieß. Erst nach dem Tode des Königs gebar die Witwe ihren jüngsten Sohn, den Helden der Sage, den sie in trauernder Erinnerung mit dem Namen seines Vaters taufte. „Linda's Trauerknabe ist es, den die Winde gehen lehren, Regenschauer wachsen machen, und die Waldesquellen nähren." sa¬ genhafte Helden stammen immer von guten Eltern ab, Kalew aber wird bald in Noth und Elend hineingestoßen. Nun durchwandert er alle Länder, welche im Gesichtskreise des Esthen liegen, Livland, Schweden, Finnland: das Lied zeigt uns den unwirthlichen Zustand vor der Einwandrung seines Volkes. Noch ist der freie Boden den Menschen nicht dienstbar geworden. Tagelang geht der Kalewide, um den berühmten Schmied, Meister Rnßbart, aufzusuchen, querfeldein, bald über braune Haide, bald über schwarzes Nebelmoor, durch Hasel- und Birkenhaine, in welchen der Auerhahn vor ihm auffliegt, dann durch düstre Fichtenwälder, wo das Schwarzwild grunzt und die Wölfe mit heiseren Gebelle ihn anfallen — überall die tiefste Oede. Und wenn der Hüne nicht aus dem Dickicht emporragte, wie ein Mensch von heute aus dem Roggen, so wäre auch er nicht durchgekommen. Endlich, nachdem er manchen reißenden Wildbach durchschritten, gelangt er zu der Meisterschmiede, die tief in eine Felsenhöhle eingebaut ist. Denn hölzerne Häuser sind noch eine Seltenheit, ein sehr kluger Zauberer in Finnland hat ein solches „nach dem Hexentopf gerichtet." Allerdings wird gleich eins in Esthland und zwar ein sehr reiches vorkommen, wie denn auch schon auf Linda's Hochzeit die Gäste den Estrich bis zum Morast getanzt hatten, so daß die Wände erzitterten — das sind Widersprüche, deren das Epos nun einmal nicht entrathen kann. Als nun der Held nach manchem Abenteuer heimkehrt, empfangen ihn seine Brüder mit der Frage, wie es mit dem Fürstensohn gehalten werden solle, denn nicht mehrere können, neben einander auf dem Hohsitz thronend, den Völkern gebieten — das uralte politische Zwanggebot, dem schon der Sänger der Ilias Ausdruck gab: Niemals frommt Vielherrschaft im Volk, nur Einer sei Herrscher, Einer König allein! — Die Erzählung, wie sie nun zur Königskur sich aufmachen, hat einen eigenen poetischen Reiz. Schön geschmückt in seidnen, goldbetreßten Röcken,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/480>, abgerufen am 28.09.2024.