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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Dieses Kriegslied, das klirrend wie ein spartanisches Embaterion auftritt,
ist esthnischen Ursprungs. Wir schicken es, in der Uebersetzung von Julius
Meyer*) voran, um uns für eine weitere Mittheilung aus der Sagen- und
Dichterwelt der Esthen Gunst zu gewinnen.

Denn dieses arme, langsam absterbende Volk, wie's heute in bäuerischer
Knechtschaft auf den Gütern der Ostseerussen lebt, hat eine Zeit des Glanzes
und rüstiger Kraft hinter sich. Zwar nicht die Geschichte, wol aber ihre
eigenen Märchen und Mythen berichten davon, also die untrüglichsten Zeug¬
nisse. Denn Geschichte kann gefälscht werden, Urkunden und statistische An¬
gaben kann man unterschieben oder vernichten, aber nichts auf der Welt wird
ein Volk veranlassen, unter der Dorflinde am Sommerabend die edlen Thaten
ihrer Vorfahren zu besingen, wenn solche Thaten nicht geschehen sind.

Die Esthen haben es in der allgemein menschlichen Entwicklung nicht
weit gebracht. Ihre beste Kraft, ihre unermüdlichste Ausdauer haben sie in
grauer Vorzeit daran gegeben, als es galt, ihren Nomadenzustand abzustreifen
und den erwählten Boden für ruhigen Ackerbau in Besitz zu nehmen. Eben
dafür zeugt ihre Nationalsage, auf die wir heute die Aufmerksamkeit lenken
möchten, nachdem eine sehr gelungene Bearbeitung derselben von Julius
Grosse erschienen ist.**)

Die "Abenteuer des Kalewiden" fassen in ähnlicher Weise eine Periode
vorgeschichtlicher Mühen und Kämpfe zusammen, wie die Theseus und
Heraklessagen der Hellenen: die harte Arbeit vieler Millionen Hände wird
dort einigen Göttersöhnen, hier einem gottähnlichen Riesen zugeschrieben. Und
wie es denn so zu gehen pflegt, daß sich an die einmal aufgestellten Helden¬
gestalten alle Ideale und Wünsche des Volkes rankengleich anlehnen, so ist
der Kalewide den Esthen zu einem Typus ihres Volks geworden; die Hünen¬
krast ihrer Vorgeschichte und die gutmüthige Schwäche ihres Verfalls haben
ihn mit bedeutenden Zügen ausgestattet, und der natürliche Reichthum der
Volksseele hat endlich noch eine solche Menge bunten Schmuckes hinzugethan,
daß die Symbolik des Märchens manchmal darunter zu ersticken droht. So
ist die Sage doch lange Jahrhunderte zu den heimischen, vom alten Wäine-
möinen erfundenen Instrumenten, "zu dem Kameel von Gräten, zu dem
Fischgeripp der Leier" gesungen worden. Lange hat es gedauert, bis sie den
Riemen überschritt. Die kleine Schrift des Pfarrers Israel: Kalewipoeg
oder die Abenteuer des Kalewiden, welche vor drei Jahren die Einbürgerung der
Sage bei uns versuchte, hat leider fast gar keinen Erfolg gehabt. Damit es
der Arbeit Grosses nicht aus Mangel an Beachtung ebenso ergehn, sind diese
Zeilen geschrieben.




*) Aus siebzehn Zungen. Leipz. 1874. S. 196.
") Die Abenteuer des Kalewiden. Esthnisches Volksmährchen. Leipz. I. I. Weber. 187S.

Dieses Kriegslied, das klirrend wie ein spartanisches Embaterion auftritt,
ist esthnischen Ursprungs. Wir schicken es, in der Uebersetzung von Julius
Meyer*) voran, um uns für eine weitere Mittheilung aus der Sagen- und
Dichterwelt der Esthen Gunst zu gewinnen.

Denn dieses arme, langsam absterbende Volk, wie's heute in bäuerischer
Knechtschaft auf den Gütern der Ostseerussen lebt, hat eine Zeit des Glanzes
und rüstiger Kraft hinter sich. Zwar nicht die Geschichte, wol aber ihre
eigenen Märchen und Mythen berichten davon, also die untrüglichsten Zeug¬
nisse. Denn Geschichte kann gefälscht werden, Urkunden und statistische An¬
gaben kann man unterschieben oder vernichten, aber nichts auf der Welt wird
ein Volk veranlassen, unter der Dorflinde am Sommerabend die edlen Thaten
ihrer Vorfahren zu besingen, wenn solche Thaten nicht geschehen sind.

Die Esthen haben es in der allgemein menschlichen Entwicklung nicht
weit gebracht. Ihre beste Kraft, ihre unermüdlichste Ausdauer haben sie in
grauer Vorzeit daran gegeben, als es galt, ihren Nomadenzustand abzustreifen
und den erwählten Boden für ruhigen Ackerbau in Besitz zu nehmen. Eben
dafür zeugt ihre Nationalsage, auf die wir heute die Aufmerksamkeit lenken
möchten, nachdem eine sehr gelungene Bearbeitung derselben von Julius
Grosse erschienen ist.**)

Die „Abenteuer des Kalewiden" fassen in ähnlicher Weise eine Periode
vorgeschichtlicher Mühen und Kämpfe zusammen, wie die Theseus und
Heraklessagen der Hellenen: die harte Arbeit vieler Millionen Hände wird
dort einigen Göttersöhnen, hier einem gottähnlichen Riesen zugeschrieben. Und
wie es denn so zu gehen pflegt, daß sich an die einmal aufgestellten Helden¬
gestalten alle Ideale und Wünsche des Volkes rankengleich anlehnen, so ist
der Kalewide den Esthen zu einem Typus ihres Volks geworden; die Hünen¬
krast ihrer Vorgeschichte und die gutmüthige Schwäche ihres Verfalls haben
ihn mit bedeutenden Zügen ausgestattet, und der natürliche Reichthum der
Volksseele hat endlich noch eine solche Menge bunten Schmuckes hinzugethan,
daß die Symbolik des Märchens manchmal darunter zu ersticken droht. So
ist die Sage doch lange Jahrhunderte zu den heimischen, vom alten Wäine-
möinen erfundenen Instrumenten, „zu dem Kameel von Gräten, zu dem
Fischgeripp der Leier" gesungen worden. Lange hat es gedauert, bis sie den
Riemen überschritt. Die kleine Schrift des Pfarrers Israel: Kalewipoeg
oder die Abenteuer des Kalewiden, welche vor drei Jahren die Einbürgerung der
Sage bei uns versuchte, hat leider fast gar keinen Erfolg gehabt. Damit es
der Arbeit Grosses nicht aus Mangel an Beachtung ebenso ergehn, sind diese
Zeilen geschrieben.




*) Aus siebzehn Zungen. Leipz. 1874. S. 196.
") Die Abenteuer des Kalewiden. Esthnisches Volksmährchen. Leipz. I. I. Weber. 187S.
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[0479] Dieses Kriegslied, das klirrend wie ein spartanisches Embaterion auftritt, ist esthnischen Ursprungs. Wir schicken es, in der Uebersetzung von Julius Meyer*) voran, um uns für eine weitere Mittheilung aus der Sagen- und Dichterwelt der Esthen Gunst zu gewinnen. Denn dieses arme, langsam absterbende Volk, wie's heute in bäuerischer Knechtschaft auf den Gütern der Ostseerussen lebt, hat eine Zeit des Glanzes und rüstiger Kraft hinter sich. Zwar nicht die Geschichte, wol aber ihre eigenen Märchen und Mythen berichten davon, also die untrüglichsten Zeug¬ nisse. Denn Geschichte kann gefälscht werden, Urkunden und statistische An¬ gaben kann man unterschieben oder vernichten, aber nichts auf der Welt wird ein Volk veranlassen, unter der Dorflinde am Sommerabend die edlen Thaten ihrer Vorfahren zu besingen, wenn solche Thaten nicht geschehen sind. Die Esthen haben es in der allgemein menschlichen Entwicklung nicht weit gebracht. Ihre beste Kraft, ihre unermüdlichste Ausdauer haben sie in grauer Vorzeit daran gegeben, als es galt, ihren Nomadenzustand abzustreifen und den erwählten Boden für ruhigen Ackerbau in Besitz zu nehmen. Eben dafür zeugt ihre Nationalsage, auf die wir heute die Aufmerksamkeit lenken möchten, nachdem eine sehr gelungene Bearbeitung derselben von Julius Grosse erschienen ist.**) Die „Abenteuer des Kalewiden" fassen in ähnlicher Weise eine Periode vorgeschichtlicher Mühen und Kämpfe zusammen, wie die Theseus und Heraklessagen der Hellenen: die harte Arbeit vieler Millionen Hände wird dort einigen Göttersöhnen, hier einem gottähnlichen Riesen zugeschrieben. Und wie es denn so zu gehen pflegt, daß sich an die einmal aufgestellten Helden¬ gestalten alle Ideale und Wünsche des Volkes rankengleich anlehnen, so ist der Kalewide den Esthen zu einem Typus ihres Volks geworden; die Hünen¬ krast ihrer Vorgeschichte und die gutmüthige Schwäche ihres Verfalls haben ihn mit bedeutenden Zügen ausgestattet, und der natürliche Reichthum der Volksseele hat endlich noch eine solche Menge bunten Schmuckes hinzugethan, daß die Symbolik des Märchens manchmal darunter zu ersticken droht. So ist die Sage doch lange Jahrhunderte zu den heimischen, vom alten Wäine- möinen erfundenen Instrumenten, „zu dem Kameel von Gräten, zu dem Fischgeripp der Leier" gesungen worden. Lange hat es gedauert, bis sie den Riemen überschritt. Die kleine Schrift des Pfarrers Israel: Kalewipoeg oder die Abenteuer des Kalewiden, welche vor drei Jahren die Einbürgerung der Sage bei uns versuchte, hat leider fast gar keinen Erfolg gehabt. Damit es der Arbeit Grosses nicht aus Mangel an Beachtung ebenso ergehn, sind diese Zeilen geschrieben. *) Aus siebzehn Zungen. Leipz. 1874. S. 196. ") Die Abenteuer des Kalewiden. Esthnisches Volksmährchen. Leipz. I. I. Weber. 187S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/479>, abgerufen am 29.06.2024.