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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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kommen, etwa eine gemeinschaftliche Unternehmung verbündeter Stämme oder
ein gegenseitiger Krieg. Bald wird, wie begreiflich, jeder Stamm, jedes Volk sich
in der Sage die größere Herrlichkeit zueignen, bei der gemeinschaftlichen Unter¬
nehmung das Meiste gethan haben, beim gegenseitigen Kriege gesiegt, oder
wenn auch dies nicht immer, doch die tapfersten Thaten gethan haben wollen. --
So weiß jeder, wie Porsenna's Angriff auf Rom durch Muth und Ent¬
schlossenheit der Römer abgeschlagen wurde, wie er namentlich durch den
Heldensinn und die Unerschrockenheit des Mucius Scävola zum Abzug be¬
wogen wurde, daß aber die etrurische Sage und ein bei den Römern nie ganz
unterdrücktes leises Gerücht Rom von Porsenna erobert und die Römer ent¬
waffnet werden ließ, davon schweigen fast alle Darsteller der Geschichte. --
Eine zweite Art, wie dieselbe Sage bei verschiedenen Völkern oder Stämmen
sich verschieden gestaltet, ist die/ wenn ursprünglich die Sage nur einem Stamme
angehört aber auf einen anderen überkommt und so weiter, bis sie bei mehreren
heimisch und dann mit mehr oder weniger Veränderungen bei verschiedenen
Völkern oder Stämmen als "eines jeden Eigenthum" wiedergefunden wird.
So kann es, wenn man erwägt, wie weit die Verbreitung der Nibelungen-
sage oder die von den Haimonskindern als "einheimische Sage" nach¬
gewiesen ist, nicht befremden, daß des Cyrus Geburt und Jugendjahre sich
bei Romulus erneuern, oder daß Babylon durch den Zogyrus oder Mega-
byzus wie Gabii durch Tarquinius Sohn eingenommen wird. --

Solche Ungewißheit verdanken wir der Sage oder Ueberlieferung. Es
giebt also nur von der Zeit an, wo in einem Volke eigentliche Geschicht¬
schreiber auftreten. Geschichte, was bei den Griechen um die Zeit der persischen
Kriege, bei den Römern um die Zeit der punischen Kriege eintritt. Was
wir über die früheren Zeiten wissen, sind streng genommen nur Ansichten,
Meinungen, Annahmen dieser beiden Völker, oder, Italien ausgenommen,
Meinungen des griechischen Volks über die eigene Geschichte und diejenige fremder
Völker. Natürlich sind diese Annahmen nicht gradezu zu verwerfen, nicht
durchweg für ungeschichtlich zu halten, denn vielen volkstümlichen Dichtungen,
vielen Ueberlieferungen pflegt eben eine Thatsache zu Grunde zu liegen, mögen
deren Nebenumstände in der Erzählung auch noch so entstellt oder ausge¬
schmückt sein; und selbst diese Ausschmückung ist keineswegs ganz ohne Werth,
da sie ein Bild des betreffenden Volkes und seines Treibens, seiner Sitten,
Denkart, Verfassungsform :e. bietet. -- So werden ferner manche von den
Thatsachen, die aus den Ueberlieferungen als wahr zu entnehmen sind, außer¬
dem jetzt noch durch Denkmäler im weitesten Sinne als Bildsäulen, Pyra¬
miden, Inschriften. :c. bestätigt. -- Nicht nur bezieht sich das auf diejenigen
Thatsachen, deren Denkmäler auf uns gekommen sind, sondern auch auf jene,
deren Denkmäler das Alterthum noch sah und uns Nachricht davon hinter-


kommen, etwa eine gemeinschaftliche Unternehmung verbündeter Stämme oder
ein gegenseitiger Krieg. Bald wird, wie begreiflich, jeder Stamm, jedes Volk sich
in der Sage die größere Herrlichkeit zueignen, bei der gemeinschaftlichen Unter¬
nehmung das Meiste gethan haben, beim gegenseitigen Kriege gesiegt, oder
wenn auch dies nicht immer, doch die tapfersten Thaten gethan haben wollen. —
So weiß jeder, wie Porsenna's Angriff auf Rom durch Muth und Ent¬
schlossenheit der Römer abgeschlagen wurde, wie er namentlich durch den
Heldensinn und die Unerschrockenheit des Mucius Scävola zum Abzug be¬
wogen wurde, daß aber die etrurische Sage und ein bei den Römern nie ganz
unterdrücktes leises Gerücht Rom von Porsenna erobert und die Römer ent¬
waffnet werden ließ, davon schweigen fast alle Darsteller der Geschichte. —
Eine zweite Art, wie dieselbe Sage bei verschiedenen Völkern oder Stämmen
sich verschieden gestaltet, ist die/ wenn ursprünglich die Sage nur einem Stamme
angehört aber auf einen anderen überkommt und so weiter, bis sie bei mehreren
heimisch und dann mit mehr oder weniger Veränderungen bei verschiedenen
Völkern oder Stämmen als „eines jeden Eigenthum" wiedergefunden wird.
So kann es, wenn man erwägt, wie weit die Verbreitung der Nibelungen-
sage oder die von den Haimonskindern als „einheimische Sage" nach¬
gewiesen ist, nicht befremden, daß des Cyrus Geburt und Jugendjahre sich
bei Romulus erneuern, oder daß Babylon durch den Zogyrus oder Mega-
byzus wie Gabii durch Tarquinius Sohn eingenommen wird. —

Solche Ungewißheit verdanken wir der Sage oder Ueberlieferung. Es
giebt also nur von der Zeit an, wo in einem Volke eigentliche Geschicht¬
schreiber auftreten. Geschichte, was bei den Griechen um die Zeit der persischen
Kriege, bei den Römern um die Zeit der punischen Kriege eintritt. Was
wir über die früheren Zeiten wissen, sind streng genommen nur Ansichten,
Meinungen, Annahmen dieser beiden Völker, oder, Italien ausgenommen,
Meinungen des griechischen Volks über die eigene Geschichte und diejenige fremder
Völker. Natürlich sind diese Annahmen nicht gradezu zu verwerfen, nicht
durchweg für ungeschichtlich zu halten, denn vielen volkstümlichen Dichtungen,
vielen Ueberlieferungen pflegt eben eine Thatsache zu Grunde zu liegen, mögen
deren Nebenumstände in der Erzählung auch noch so entstellt oder ausge¬
schmückt sein; und selbst diese Ausschmückung ist keineswegs ganz ohne Werth,
da sie ein Bild des betreffenden Volkes und seines Treibens, seiner Sitten,
Denkart, Verfassungsform :e. bietet. — So werden ferner manche von den
Thatsachen, die aus den Ueberlieferungen als wahr zu entnehmen sind, außer¬
dem jetzt noch durch Denkmäler im weitesten Sinne als Bildsäulen, Pyra¬
miden, Inschriften. :c. bestätigt. — Nicht nur bezieht sich das auf diejenigen
Thatsachen, deren Denkmäler auf uns gekommen sind, sondern auch auf jene,
deren Denkmäler das Alterthum noch sah und uns Nachricht davon hinter-


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[0474] kommen, etwa eine gemeinschaftliche Unternehmung verbündeter Stämme oder ein gegenseitiger Krieg. Bald wird, wie begreiflich, jeder Stamm, jedes Volk sich in der Sage die größere Herrlichkeit zueignen, bei der gemeinschaftlichen Unter¬ nehmung das Meiste gethan haben, beim gegenseitigen Kriege gesiegt, oder wenn auch dies nicht immer, doch die tapfersten Thaten gethan haben wollen. — So weiß jeder, wie Porsenna's Angriff auf Rom durch Muth und Ent¬ schlossenheit der Römer abgeschlagen wurde, wie er namentlich durch den Heldensinn und die Unerschrockenheit des Mucius Scävola zum Abzug be¬ wogen wurde, daß aber die etrurische Sage und ein bei den Römern nie ganz unterdrücktes leises Gerücht Rom von Porsenna erobert und die Römer ent¬ waffnet werden ließ, davon schweigen fast alle Darsteller der Geschichte. — Eine zweite Art, wie dieselbe Sage bei verschiedenen Völkern oder Stämmen sich verschieden gestaltet, ist die/ wenn ursprünglich die Sage nur einem Stamme angehört aber auf einen anderen überkommt und so weiter, bis sie bei mehreren heimisch und dann mit mehr oder weniger Veränderungen bei verschiedenen Völkern oder Stämmen als „eines jeden Eigenthum" wiedergefunden wird. So kann es, wenn man erwägt, wie weit die Verbreitung der Nibelungen- sage oder die von den Haimonskindern als „einheimische Sage" nach¬ gewiesen ist, nicht befremden, daß des Cyrus Geburt und Jugendjahre sich bei Romulus erneuern, oder daß Babylon durch den Zogyrus oder Mega- byzus wie Gabii durch Tarquinius Sohn eingenommen wird. — Solche Ungewißheit verdanken wir der Sage oder Ueberlieferung. Es giebt also nur von der Zeit an, wo in einem Volke eigentliche Geschicht¬ schreiber auftreten. Geschichte, was bei den Griechen um die Zeit der persischen Kriege, bei den Römern um die Zeit der punischen Kriege eintritt. Was wir über die früheren Zeiten wissen, sind streng genommen nur Ansichten, Meinungen, Annahmen dieser beiden Völker, oder, Italien ausgenommen, Meinungen des griechischen Volks über die eigene Geschichte und diejenige fremder Völker. Natürlich sind diese Annahmen nicht gradezu zu verwerfen, nicht durchweg für ungeschichtlich zu halten, denn vielen volkstümlichen Dichtungen, vielen Ueberlieferungen pflegt eben eine Thatsache zu Grunde zu liegen, mögen deren Nebenumstände in der Erzählung auch noch so entstellt oder ausge¬ schmückt sein; und selbst diese Ausschmückung ist keineswegs ganz ohne Werth, da sie ein Bild des betreffenden Volkes und seines Treibens, seiner Sitten, Denkart, Verfassungsform :e. bietet. — So werden ferner manche von den Thatsachen, die aus den Ueberlieferungen als wahr zu entnehmen sind, außer¬ dem jetzt noch durch Denkmäler im weitesten Sinne als Bildsäulen, Pyra¬ miden, Inschriften. :c. bestätigt. — Nicht nur bezieht sich das auf diejenigen Thatsachen, deren Denkmäler auf uns gekommen sind, sondern auch auf jene, deren Denkmäler das Alterthum noch sah und uns Nachricht davon hinter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/474>, abgerufen am 28.09.2024.