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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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glaubte, bis seine fernen Bundesgenossen ihn entsetzen würden, allein ein durch'
Zufall entdeckter schmaler Fußweg führte die Belagerer unerwartet auf die
Spitze des Felsens und auf die Mauern, wo sie die überraschten Vertheidiger
überwanden. Der Sieger verdammte den gefangenen Herrscher Lybiens zum
Scheiterhaufen und nur die Erwähnung des Solon verschaffte ihm Gnade,
die beinahe zu spät gekommen wäre, denn schon loderte das Holz und mensch¬
liche Hilfe hätte schwerlich mehr dem Feuer Einhalt thun können, wenn nicht
aus Crösus flehentliches Gebet Apollo dasselbe durch einen heftigen Regenguß
verlöscht hätte. So erzählt also Herodot diese Begebenheit, welche sich nur
70 Jahre vor seiner Geburt zugetragen hatte. Aus den auf uns gekommenen
Auszügen des Ctesias ergiebt sich aber, daß darüber noch eine ganz andere
Sage vorhanden war: Cyrus besiegt den Crösus und schließt ihn in Sardes
ein, dieser, um Zeit zu gewinnen, giebt dem Sieger seinen Sohn zur Geisel,
allein, als Cyrus merkt, daß Crösus auf Ränke sinnt, läßt er den Sohn
unter den Mauern der belagerten Stadt', vor den Augen der Einwohner
tödten; in wildem Schmerz darüber sucht sich die Mutter von den Mauern
herabzustürzen, findet aber den gesuchten Tod nicht. Die Stadt durch Ge¬
walt zu erobern nicht vermögend, nimmt Cyrus sie durch List, indem er
hölzerne Bildsäulen verfertigen ließ, welche, plötzlich auf der Mauer erscheinend,
die Vertheidiger in Schrecken setzen. Bei der Eroberung der Stadt findet
die Mutter ihren Tod in einem Tempel des Apollo, Crösus wird in dem¬
selben Tempel gefesselt bewacht, um hingerichtet zu werden, aber seine Ketten
lösen sich durch eine unsichtbare Macht und dies wiederholt sich dreimal.
Cyrus, Verrätherei vermuthend, läßt die Tempelwänden tödten, den Crösus
noch fester ketten und in dem Palast, den er selbst bewohnt, bewachen, allein
unter Donner und Blitz werden die Ketten abermals gesprengt. Da erkennt
Cyrus den Schutz des Gottes und behandelt den gefangenen Herrscher hinfort
gütig, selbst freundschaftlich. -- Diese beiden Erzählungen können offenbar
nicht neben einander bestehen, nicht vereinigt werden, aber, abgesehen von
dem Schmuck der Sage, liegen wol drei einfache Thatsachen beiden zu Grunde,
daß nämlich durch Unglücksfälle des Crösus eignes Haus unterging und er
freudenleer, ohne Kinder dastand, als er in die Gewalt des Siegers fiel, --
daß Sardes von den Persern auf unerwartete, die Vertheidiger überraschende
Weise genommen wurde, -- daß Crösus, vom zürnenden Sieger zum Tode
bestimmt, auf unbegreifliche und daher dem besonderen Schutz der Götter zu¬
geschriebene Weise gerettet und nachher von Cyrus mit Achtung behandelt
wurde. --

Die Sage von derselben Begebenheit bildet sich auch unter verschiedenen
Stämmen und verschiedenen Völkern verschieden aus und zwar vorzüglich auf
doppelte Weise. So kann nämlich die Thatsache wirklich beiden Völkern zu-


Grenzboten III. 1875. S9

glaubte, bis seine fernen Bundesgenossen ihn entsetzen würden, allein ein durch'
Zufall entdeckter schmaler Fußweg führte die Belagerer unerwartet auf die
Spitze des Felsens und auf die Mauern, wo sie die überraschten Vertheidiger
überwanden. Der Sieger verdammte den gefangenen Herrscher Lybiens zum
Scheiterhaufen und nur die Erwähnung des Solon verschaffte ihm Gnade,
die beinahe zu spät gekommen wäre, denn schon loderte das Holz und mensch¬
liche Hilfe hätte schwerlich mehr dem Feuer Einhalt thun können, wenn nicht
aus Crösus flehentliches Gebet Apollo dasselbe durch einen heftigen Regenguß
verlöscht hätte. So erzählt also Herodot diese Begebenheit, welche sich nur
70 Jahre vor seiner Geburt zugetragen hatte. Aus den auf uns gekommenen
Auszügen des Ctesias ergiebt sich aber, daß darüber noch eine ganz andere
Sage vorhanden war: Cyrus besiegt den Crösus und schließt ihn in Sardes
ein, dieser, um Zeit zu gewinnen, giebt dem Sieger seinen Sohn zur Geisel,
allein, als Cyrus merkt, daß Crösus auf Ränke sinnt, läßt er den Sohn
unter den Mauern der belagerten Stadt', vor den Augen der Einwohner
tödten; in wildem Schmerz darüber sucht sich die Mutter von den Mauern
herabzustürzen, findet aber den gesuchten Tod nicht. Die Stadt durch Ge¬
walt zu erobern nicht vermögend, nimmt Cyrus sie durch List, indem er
hölzerne Bildsäulen verfertigen ließ, welche, plötzlich auf der Mauer erscheinend,
die Vertheidiger in Schrecken setzen. Bei der Eroberung der Stadt findet
die Mutter ihren Tod in einem Tempel des Apollo, Crösus wird in dem¬
selben Tempel gefesselt bewacht, um hingerichtet zu werden, aber seine Ketten
lösen sich durch eine unsichtbare Macht und dies wiederholt sich dreimal.
Cyrus, Verrätherei vermuthend, läßt die Tempelwänden tödten, den Crösus
noch fester ketten und in dem Palast, den er selbst bewohnt, bewachen, allein
unter Donner und Blitz werden die Ketten abermals gesprengt. Da erkennt
Cyrus den Schutz des Gottes und behandelt den gefangenen Herrscher hinfort
gütig, selbst freundschaftlich. — Diese beiden Erzählungen können offenbar
nicht neben einander bestehen, nicht vereinigt werden, aber, abgesehen von
dem Schmuck der Sage, liegen wol drei einfache Thatsachen beiden zu Grunde,
daß nämlich durch Unglücksfälle des Crösus eignes Haus unterging und er
freudenleer, ohne Kinder dastand, als er in die Gewalt des Siegers fiel, —
daß Sardes von den Persern auf unerwartete, die Vertheidiger überraschende
Weise genommen wurde, — daß Crösus, vom zürnenden Sieger zum Tode
bestimmt, auf unbegreifliche und daher dem besonderen Schutz der Götter zu¬
geschriebene Weise gerettet und nachher von Cyrus mit Achtung behandelt
wurde. —

Die Sage von derselben Begebenheit bildet sich auch unter verschiedenen
Stämmen und verschiedenen Völkern verschieden aus und zwar vorzüglich auf
doppelte Weise. So kann nämlich die Thatsache wirklich beiden Völkern zu-


Grenzboten III. 1875. S9
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[0473] glaubte, bis seine fernen Bundesgenossen ihn entsetzen würden, allein ein durch' Zufall entdeckter schmaler Fußweg führte die Belagerer unerwartet auf die Spitze des Felsens und auf die Mauern, wo sie die überraschten Vertheidiger überwanden. Der Sieger verdammte den gefangenen Herrscher Lybiens zum Scheiterhaufen und nur die Erwähnung des Solon verschaffte ihm Gnade, die beinahe zu spät gekommen wäre, denn schon loderte das Holz und mensch¬ liche Hilfe hätte schwerlich mehr dem Feuer Einhalt thun können, wenn nicht aus Crösus flehentliches Gebet Apollo dasselbe durch einen heftigen Regenguß verlöscht hätte. So erzählt also Herodot diese Begebenheit, welche sich nur 70 Jahre vor seiner Geburt zugetragen hatte. Aus den auf uns gekommenen Auszügen des Ctesias ergiebt sich aber, daß darüber noch eine ganz andere Sage vorhanden war: Cyrus besiegt den Crösus und schließt ihn in Sardes ein, dieser, um Zeit zu gewinnen, giebt dem Sieger seinen Sohn zur Geisel, allein, als Cyrus merkt, daß Crösus auf Ränke sinnt, läßt er den Sohn unter den Mauern der belagerten Stadt', vor den Augen der Einwohner tödten; in wildem Schmerz darüber sucht sich die Mutter von den Mauern herabzustürzen, findet aber den gesuchten Tod nicht. Die Stadt durch Ge¬ walt zu erobern nicht vermögend, nimmt Cyrus sie durch List, indem er hölzerne Bildsäulen verfertigen ließ, welche, plötzlich auf der Mauer erscheinend, die Vertheidiger in Schrecken setzen. Bei der Eroberung der Stadt findet die Mutter ihren Tod in einem Tempel des Apollo, Crösus wird in dem¬ selben Tempel gefesselt bewacht, um hingerichtet zu werden, aber seine Ketten lösen sich durch eine unsichtbare Macht und dies wiederholt sich dreimal. Cyrus, Verrätherei vermuthend, läßt die Tempelwänden tödten, den Crösus noch fester ketten und in dem Palast, den er selbst bewohnt, bewachen, allein unter Donner und Blitz werden die Ketten abermals gesprengt. Da erkennt Cyrus den Schutz des Gottes und behandelt den gefangenen Herrscher hinfort gütig, selbst freundschaftlich. — Diese beiden Erzählungen können offenbar nicht neben einander bestehen, nicht vereinigt werden, aber, abgesehen von dem Schmuck der Sage, liegen wol drei einfache Thatsachen beiden zu Grunde, daß nämlich durch Unglücksfälle des Crösus eignes Haus unterging und er freudenleer, ohne Kinder dastand, als er in die Gewalt des Siegers fiel, — daß Sardes von den Persern auf unerwartete, die Vertheidiger überraschende Weise genommen wurde, — daß Crösus, vom zürnenden Sieger zum Tode bestimmt, auf unbegreifliche und daher dem besonderen Schutz der Götter zu¬ geschriebene Weise gerettet und nachher von Cyrus mit Achtung behandelt wurde. — Die Sage von derselben Begebenheit bildet sich auch unter verschiedenen Stämmen und verschiedenen Völkern verschieden aus und zwar vorzüglich auf doppelte Weise. So kann nämlich die Thatsache wirklich beiden Völkern zu- Grenzboten III. 1875. S9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/473>, abgerufen am 29.06.2024.