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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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nesos, ebenso wie wir es mit Frauens als dem Gründer Frankreichs und mit
Brutus als dem Gründer Britanniens gemacht haben.

Es muß nunmehr die Natur der Gründe in's Auge gefaßt werden, mit
denen die Gewißheit und Sicherheit der ältesten Geschichte angefochten worden
ist, das Gemeinschaftliche, was allen diesen Gründen und Prüfungen
zu Grunde liegt, die ja übrigens, wenn auch nach denselben Grundsätzen ge¬
führt, doch aus der Art und Weise, wie sie von verschiedenen angestellt werden,
etwas Verschiedenes ergeben können. So ist es z. B. möglich, Roms troja¬
nischen Ursprung gemeinschaftlich zu verwerfen ohne deshalb Niebuhrs
etrurischen Ursprung Roms gelten zu lassen, der vielleicht einem griechischen
Ursprung weichen muß. --

Unsere Kenntniß von der ältesten Geschichte ist nur aus Bruchstücken
zusammengesetzt, auf einen kleinen Raum der Erde schränken sich unsere
ersten Nachrichten ein, bis sie mit der Zeit immer mehr und mehr wachsen,
ohne freilich selbst bis jetzt die ganze Erde zu umfassen. -- Erst wenn bei
einem Volke zur dauernden Mittheilung der Schmuck des Verses aufhört,
wenn es also seine ungebundene Rede ausgebildet hat und leichtes Werkzeug
zum Schreiben besitzt, sind eigentliche Geschichtsschreiber möglich, vorher geht
Dichtung und Ueberlieferung; jene verstellt willkürlich die Thatsachen und
verschönert sie, wie es grade für den besondern Zweck der Dichtung nöthig ist,
diese thut dasselbe unwillkürlich, indem sie von einem Geschlecht auf das
andere forterbend, im Laufe der Zeiten und im Munde so vieler Erzähler
allmälig diesen Umstand verändert, jenen verschweigt und Neues hinzufügt.
Auch verändert die Sage die Thatsache, welche ihr zu Grunde liegt, noch
dadurch, daß sie sich bald verzweigt, d. h. der erste Erzähler mag die Be¬
gebenheit mehreren Hörern zugleich oder doch auf gleiche Weise erzählt haben,
aber diese Hörer erzählen sie wieder jeder mehreren und so in unendlicher
Reihe fort. Es ändert sich nun dieselbe Sage im Lauf der Zeiten, aber nicht
auf einerlei Weise; was der eine ausläßt, behält ein anderer Erzähler bei
und umgekehrt, hier wird außerdem dieses, dort jenes zugesetzt, so daß, nach¬
dem längere Zeit verflossen, man eine Sage, von verschiedenen Seiten ver¬
nommen, aus den ersten Blick gar nicht für dieselbe zu halten geneigt ist, bis
erst bei eingehender Forschung sich die Wahrheit entdeckt, die wol beiden zu Grunde
gelegen haben könnte. Ein Beispiel wird das erläutern: Nach Herodot war
der eine Sohn von Lybiens reichem Herrscher Crösus stumm, der zweite wurde
auf der Jagd von einem Freunde, dessen Speer den Eber verfolgte, getödtet.
Solon erinnerte den Uebermüthigen an die Wandelbarkeit des menschlichen
Glücks. Crösus griff, geblendet durch täuschende Orakel (obschon er ein Lieb¬
ling des Apoll war) den Cyrus an, wurde geschlagen und schloß sich in
seiner fast unbezwinglichen Burg ein, in der er sich behaupten zu können


nesos, ebenso wie wir es mit Frauens als dem Gründer Frankreichs und mit
Brutus als dem Gründer Britanniens gemacht haben.

Es muß nunmehr die Natur der Gründe in's Auge gefaßt werden, mit
denen die Gewißheit und Sicherheit der ältesten Geschichte angefochten worden
ist, das Gemeinschaftliche, was allen diesen Gründen und Prüfungen
zu Grunde liegt, die ja übrigens, wenn auch nach denselben Grundsätzen ge¬
führt, doch aus der Art und Weise, wie sie von verschiedenen angestellt werden,
etwas Verschiedenes ergeben können. So ist es z. B. möglich, Roms troja¬
nischen Ursprung gemeinschaftlich zu verwerfen ohne deshalb Niebuhrs
etrurischen Ursprung Roms gelten zu lassen, der vielleicht einem griechischen
Ursprung weichen muß. —

Unsere Kenntniß von der ältesten Geschichte ist nur aus Bruchstücken
zusammengesetzt, auf einen kleinen Raum der Erde schränken sich unsere
ersten Nachrichten ein, bis sie mit der Zeit immer mehr und mehr wachsen,
ohne freilich selbst bis jetzt die ganze Erde zu umfassen. — Erst wenn bei
einem Volke zur dauernden Mittheilung der Schmuck des Verses aufhört,
wenn es also seine ungebundene Rede ausgebildet hat und leichtes Werkzeug
zum Schreiben besitzt, sind eigentliche Geschichtsschreiber möglich, vorher geht
Dichtung und Ueberlieferung; jene verstellt willkürlich die Thatsachen und
verschönert sie, wie es grade für den besondern Zweck der Dichtung nöthig ist,
diese thut dasselbe unwillkürlich, indem sie von einem Geschlecht auf das
andere forterbend, im Laufe der Zeiten und im Munde so vieler Erzähler
allmälig diesen Umstand verändert, jenen verschweigt und Neues hinzufügt.
Auch verändert die Sage die Thatsache, welche ihr zu Grunde liegt, noch
dadurch, daß sie sich bald verzweigt, d. h. der erste Erzähler mag die Be¬
gebenheit mehreren Hörern zugleich oder doch auf gleiche Weise erzählt haben,
aber diese Hörer erzählen sie wieder jeder mehreren und so in unendlicher
Reihe fort. Es ändert sich nun dieselbe Sage im Lauf der Zeiten, aber nicht
auf einerlei Weise; was der eine ausläßt, behält ein anderer Erzähler bei
und umgekehrt, hier wird außerdem dieses, dort jenes zugesetzt, so daß, nach¬
dem längere Zeit verflossen, man eine Sage, von verschiedenen Seiten ver¬
nommen, aus den ersten Blick gar nicht für dieselbe zu halten geneigt ist, bis
erst bei eingehender Forschung sich die Wahrheit entdeckt, die wol beiden zu Grunde
gelegen haben könnte. Ein Beispiel wird das erläutern: Nach Herodot war
der eine Sohn von Lybiens reichem Herrscher Crösus stumm, der zweite wurde
auf der Jagd von einem Freunde, dessen Speer den Eber verfolgte, getödtet.
Solon erinnerte den Uebermüthigen an die Wandelbarkeit des menschlichen
Glücks. Crösus griff, geblendet durch täuschende Orakel (obschon er ein Lieb¬
ling des Apoll war) den Cyrus an, wurde geschlagen und schloß sich in
seiner fast unbezwinglichen Burg ein, in der er sich behaupten zu können


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[0472] nesos, ebenso wie wir es mit Frauens als dem Gründer Frankreichs und mit Brutus als dem Gründer Britanniens gemacht haben. Es muß nunmehr die Natur der Gründe in's Auge gefaßt werden, mit denen die Gewißheit und Sicherheit der ältesten Geschichte angefochten worden ist, das Gemeinschaftliche, was allen diesen Gründen und Prüfungen zu Grunde liegt, die ja übrigens, wenn auch nach denselben Grundsätzen ge¬ führt, doch aus der Art und Weise, wie sie von verschiedenen angestellt werden, etwas Verschiedenes ergeben können. So ist es z. B. möglich, Roms troja¬ nischen Ursprung gemeinschaftlich zu verwerfen ohne deshalb Niebuhrs etrurischen Ursprung Roms gelten zu lassen, der vielleicht einem griechischen Ursprung weichen muß. — Unsere Kenntniß von der ältesten Geschichte ist nur aus Bruchstücken zusammengesetzt, auf einen kleinen Raum der Erde schränken sich unsere ersten Nachrichten ein, bis sie mit der Zeit immer mehr und mehr wachsen, ohne freilich selbst bis jetzt die ganze Erde zu umfassen. — Erst wenn bei einem Volke zur dauernden Mittheilung der Schmuck des Verses aufhört, wenn es also seine ungebundene Rede ausgebildet hat und leichtes Werkzeug zum Schreiben besitzt, sind eigentliche Geschichtsschreiber möglich, vorher geht Dichtung und Ueberlieferung; jene verstellt willkürlich die Thatsachen und verschönert sie, wie es grade für den besondern Zweck der Dichtung nöthig ist, diese thut dasselbe unwillkürlich, indem sie von einem Geschlecht auf das andere forterbend, im Laufe der Zeiten und im Munde so vieler Erzähler allmälig diesen Umstand verändert, jenen verschweigt und Neues hinzufügt. Auch verändert die Sage die Thatsache, welche ihr zu Grunde liegt, noch dadurch, daß sie sich bald verzweigt, d. h. der erste Erzähler mag die Be¬ gebenheit mehreren Hörern zugleich oder doch auf gleiche Weise erzählt haben, aber diese Hörer erzählen sie wieder jeder mehreren und so in unendlicher Reihe fort. Es ändert sich nun dieselbe Sage im Lauf der Zeiten, aber nicht auf einerlei Weise; was der eine ausläßt, behält ein anderer Erzähler bei und umgekehrt, hier wird außerdem dieses, dort jenes zugesetzt, so daß, nach¬ dem längere Zeit verflossen, man eine Sage, von verschiedenen Seiten ver¬ nommen, aus den ersten Blick gar nicht für dieselbe zu halten geneigt ist, bis erst bei eingehender Forschung sich die Wahrheit entdeckt, die wol beiden zu Grunde gelegen haben könnte. Ein Beispiel wird das erläutern: Nach Herodot war der eine Sohn von Lybiens reichem Herrscher Crösus stumm, der zweite wurde auf der Jagd von einem Freunde, dessen Speer den Eber verfolgte, getödtet. Solon erinnerte den Uebermüthigen an die Wandelbarkeit des menschlichen Glücks. Crösus griff, geblendet durch täuschende Orakel (obschon er ein Lieb¬ ling des Apoll war) den Cyrus an, wurde geschlagen und schloß sich in seiner fast unbezwinglichen Burg ein, in der er sich behaupten zu können

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/472>, abgerufen am 29.06.2024.