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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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sammlen alten Geschichte, sondern der ältesten Geschichte an: bei den
Griechen Clavier, bei den Römern früher schon Beaufort, dann, gleichzeitig mit
Clavier, Levesque und vor allen mit gediegener Gelehrsamkeit und großem Scharf¬
sinn Niebuhr. Und wie viel von dem, was wir früher als echtes Eigenthum
zu besitzen wähnten, mußten wir nach den Nachweisen dieser Forscher ohne
Rettung aufgeben. Selbst die Perserkriege und die Schlachten von Marathon
und Salamis sind, wenn auch nicht bezweifelt, so doch verschönt und ver¬
herrlicht durch die Volksüberlieferung und dadurch wie von einem Zauberglanz
des Glaubens umflossen. Dasselbe ist der Fall mit den Kriegen der Römer
gegen Pyrrhus und mit ihren ersten punischen Kriegen. Was aber bei beiden
Völkern darüber hinausliegt, ist Sage und Gedicht. Nur Einzelnes steht
fest, ohne umgestoßen werden zu können, gleichsam wie einzelne Marksteine,
an denen man nach einer großen Ueberschwemmung wenigstens hie und da
noch frühere Grenzen bestimmen kann. Dies ist das Bild, welches neuste
Forschung als das Ergebniß über die älteste Geschichte dieser beiden Völker
aufstellt. Daß auch in der alten Geschichte aus späterer Zeit noch Manches
bezweifelt wird, was nicht die Hauptsache selbst betrifft, sondern nur Zeit,
Ort oder den Thäter, das wird keinen wundern, der an ein ähnliches Schwan¬
ken in der mittleren, neuen und selbst neuesten Geschichte sich erinnert -- wenn
z. B. die Geschichtschreiber verschiedener Nationen jeder seinem Volk nach einer
Schlacht den Sieg zuschreibt, oder der Erfinder der Buchdruckerkunst, oder
der des Pulvers noch ungewiß ist. Darum ist und bleibt doch das Pulver
wie die Buchdruckerkunst erfunden. --

Es drängen sich uns die Fragen auf, mit welchem Rechte ist gleichsam
das Vernichtungsurtheil über die älteste Geschichte ausgesprochen? Läßt sich
der Untersuchungen der vorerwähnten und anderer Gelehrten nichts entgegen¬
setzen, was die alte Ansicht rechtfertigt? Wenn sie nun aber Recht haben,
soll dann Alles das, was wir bisher von der ältesten Geschichte jener
Völker zu wissen glaubten, als völlig gehaltn und werthlos bei Seite gesetzt
werden?

Die Ansicht, welche aus der Prüfung der erwähnten Forscher resultirt,
ist entweder wahr und begründet oder nicht. Ist das Letztere der Fall, lassen
ihre Behauptungen sich widerlegen, so bleibt das Alte vollständig in Ehren
und die alte Geschichte behält ihren alten Umfang und ihre frühere Bedeutung.
Ist aber das erstere der Fall, ist also die Ansicht der Geschichtsforscher, wenn
auch nicht in jedem einzelnen Punkte, doch im Ganzen richtig, so behält die
Kenntniß der ältesten Geschichte entweder doch noch einen Werth oder keinen.
-- Behält sie keinen Werth, was hindert uns dann, sie zu "streichen", zu
verbannen den Romulus Roms, den Tros Trojas, den Pelops des Pelopon-


sammlen alten Geschichte, sondern der ältesten Geschichte an: bei den
Griechen Clavier, bei den Römern früher schon Beaufort, dann, gleichzeitig mit
Clavier, Levesque und vor allen mit gediegener Gelehrsamkeit und großem Scharf¬
sinn Niebuhr. Und wie viel von dem, was wir früher als echtes Eigenthum
zu besitzen wähnten, mußten wir nach den Nachweisen dieser Forscher ohne
Rettung aufgeben. Selbst die Perserkriege und die Schlachten von Marathon
und Salamis sind, wenn auch nicht bezweifelt, so doch verschönt und ver¬
herrlicht durch die Volksüberlieferung und dadurch wie von einem Zauberglanz
des Glaubens umflossen. Dasselbe ist der Fall mit den Kriegen der Römer
gegen Pyrrhus und mit ihren ersten punischen Kriegen. Was aber bei beiden
Völkern darüber hinausliegt, ist Sage und Gedicht. Nur Einzelnes steht
fest, ohne umgestoßen werden zu können, gleichsam wie einzelne Marksteine,
an denen man nach einer großen Ueberschwemmung wenigstens hie und da
noch frühere Grenzen bestimmen kann. Dies ist das Bild, welches neuste
Forschung als das Ergebniß über die älteste Geschichte dieser beiden Völker
aufstellt. Daß auch in der alten Geschichte aus späterer Zeit noch Manches
bezweifelt wird, was nicht die Hauptsache selbst betrifft, sondern nur Zeit,
Ort oder den Thäter, das wird keinen wundern, der an ein ähnliches Schwan¬
ken in der mittleren, neuen und selbst neuesten Geschichte sich erinnert — wenn
z. B. die Geschichtschreiber verschiedener Nationen jeder seinem Volk nach einer
Schlacht den Sieg zuschreibt, oder der Erfinder der Buchdruckerkunst, oder
der des Pulvers noch ungewiß ist. Darum ist und bleibt doch das Pulver
wie die Buchdruckerkunst erfunden. —

Es drängen sich uns die Fragen auf, mit welchem Rechte ist gleichsam
das Vernichtungsurtheil über die älteste Geschichte ausgesprochen? Läßt sich
der Untersuchungen der vorerwähnten und anderer Gelehrten nichts entgegen¬
setzen, was die alte Ansicht rechtfertigt? Wenn sie nun aber Recht haben,
soll dann Alles das, was wir bisher von der ältesten Geschichte jener
Völker zu wissen glaubten, als völlig gehaltn und werthlos bei Seite gesetzt
werden?

Die Ansicht, welche aus der Prüfung der erwähnten Forscher resultirt,
ist entweder wahr und begründet oder nicht. Ist das Letztere der Fall, lassen
ihre Behauptungen sich widerlegen, so bleibt das Alte vollständig in Ehren
und die alte Geschichte behält ihren alten Umfang und ihre frühere Bedeutung.
Ist aber das erstere der Fall, ist also die Ansicht der Geschichtsforscher, wenn
auch nicht in jedem einzelnen Punkte, doch im Ganzen richtig, so behält die
Kenntniß der ältesten Geschichte entweder doch noch einen Werth oder keinen.
— Behält sie keinen Werth, was hindert uns dann, sie zu „streichen", zu
verbannen den Romulus Roms, den Tros Trojas, den Pelops des Pelopon-


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[0471] sammlen alten Geschichte, sondern der ältesten Geschichte an: bei den Griechen Clavier, bei den Römern früher schon Beaufort, dann, gleichzeitig mit Clavier, Levesque und vor allen mit gediegener Gelehrsamkeit und großem Scharf¬ sinn Niebuhr. Und wie viel von dem, was wir früher als echtes Eigenthum zu besitzen wähnten, mußten wir nach den Nachweisen dieser Forscher ohne Rettung aufgeben. Selbst die Perserkriege und die Schlachten von Marathon und Salamis sind, wenn auch nicht bezweifelt, so doch verschönt und ver¬ herrlicht durch die Volksüberlieferung und dadurch wie von einem Zauberglanz des Glaubens umflossen. Dasselbe ist der Fall mit den Kriegen der Römer gegen Pyrrhus und mit ihren ersten punischen Kriegen. Was aber bei beiden Völkern darüber hinausliegt, ist Sage und Gedicht. Nur Einzelnes steht fest, ohne umgestoßen werden zu können, gleichsam wie einzelne Marksteine, an denen man nach einer großen Ueberschwemmung wenigstens hie und da noch frühere Grenzen bestimmen kann. Dies ist das Bild, welches neuste Forschung als das Ergebniß über die älteste Geschichte dieser beiden Völker aufstellt. Daß auch in der alten Geschichte aus späterer Zeit noch Manches bezweifelt wird, was nicht die Hauptsache selbst betrifft, sondern nur Zeit, Ort oder den Thäter, das wird keinen wundern, der an ein ähnliches Schwan¬ ken in der mittleren, neuen und selbst neuesten Geschichte sich erinnert — wenn z. B. die Geschichtschreiber verschiedener Nationen jeder seinem Volk nach einer Schlacht den Sieg zuschreibt, oder der Erfinder der Buchdruckerkunst, oder der des Pulvers noch ungewiß ist. Darum ist und bleibt doch das Pulver wie die Buchdruckerkunst erfunden. — Es drängen sich uns die Fragen auf, mit welchem Rechte ist gleichsam das Vernichtungsurtheil über die älteste Geschichte ausgesprochen? Läßt sich der Untersuchungen der vorerwähnten und anderer Gelehrten nichts entgegen¬ setzen, was die alte Ansicht rechtfertigt? Wenn sie nun aber Recht haben, soll dann Alles das, was wir bisher von der ältesten Geschichte jener Völker zu wissen glaubten, als völlig gehaltn und werthlos bei Seite gesetzt werden? Die Ansicht, welche aus der Prüfung der erwähnten Forscher resultirt, ist entweder wahr und begründet oder nicht. Ist das Letztere der Fall, lassen ihre Behauptungen sich widerlegen, so bleibt das Alte vollständig in Ehren und die alte Geschichte behält ihren alten Umfang und ihre frühere Bedeutung. Ist aber das erstere der Fall, ist also die Ansicht der Geschichtsforscher, wenn auch nicht in jedem einzelnen Punkte, doch im Ganzen richtig, so behält die Kenntniß der ältesten Geschichte entweder doch noch einen Werth oder keinen. — Behält sie keinen Werth, was hindert uns dann, sie zu „streichen", zu verbannen den Romulus Roms, den Tros Trojas, den Pelops des Pelopon-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/471>, abgerufen am 29.06.2024.