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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Die Glaubwürdigkeit und der Werth der ältesten
Heschichte.

Geraume Zeit, nachdem die Wissenschaften aus der Erniedrigung des
Mittelalters erstanden waren, wurde mit gläubigem Sinne Geschichte der
alten Welt gelehrt und gelernt, wie sie uns in den Meisterwerken der
griechischen und römischen Schriftsteller überliefert worden war. Kein Mi߬
trauen, das für Frevel gegolten hätte, wurde in ihre Erzählungen gesetzt
und des Egypters Sesostris. des Messeniers Aristodemos und Romulus, des
Gründers der ewigen Siebenhügelstadt, Leben lag mit eben der Gewißheit,
Klarheit und Ausführlichkeit vor unsern Augen als das des ersten Ptolemäers,
oder des Atheners Perikles, oder Caesars, der die schon erschütterte Freiheit
seines Volkes vernichtete. So lernte ein Geschlecht nach dem andern, wenn
es nach gediegener oder allgemeiner Bildung strebte, aus alten und neuen
Büchern dieselbe Reihe von Begebenheiten, ohne zu forschen, auf welchem
Grunde diese Kenntniß ruhte, ohne also in diesem Sinne die Kenntniß zur
Erkenntniß gemacht zu haben. Wenn auch vereinzelt eine Stimme des Zweifels
laut wurde, so blieb sie unbeachtet, theils weil man es für lächerlich hielt,
an dem durch eine so geraume Zeit Geheiligten zu zweifeln, theils weil man
sich auch scheute, den leichten und sichern Besitz des Erworbenen durch' eine
mühsame Forschung zu verlieren und etwas Neues erlernen zu müssen. So
groß war die Scheu, daß man selbst die wenigen Stimmen, die aus dem
Alterthume schon über die Ungewißheit der Geschichte herübertönten, überhörte,
wie z. B. des Juvenal Ausspruch von dem. was das lügende Griechenland
sich in der Geschichte erdreistete. Ja, selbst offenbare Widersprüche wurden
nicht beachtet; man sah sie und mußte sie sehen, aber man wußte sich zu
helfen. Der Widerspruch der sogenannten Profanschriftsteller gegen die Ur¬
kunden des jüdischen Volkes wurde lügenhaft, oft noch ärger genannt. Und
so wie nun Herodot in diesem Theil seiner Geschichte ein Lügner gescholten
wurde, so hieß wieder, wenn von den persischen Kriegen die Rede war, Ctesias
ein Lügner gegen ihn. Auf die Art war freilich der Knoten am bequemsten
zu lösen. Wenn übrigens auch Ctesias gerade hier geirrt haben mag, so
trägt seine ganze übrige persische Geschichte, die wir leider nur noch im Aus¬
zuge besitzen, den unverkennbaren Stempel der Wahrheit.

Aber derselbe Geist der Prüfung, der vom Zweifel ausgeht, um, wenn
auch mit Aufopferung von Manchem, was bis dahin für Eigenthum gehalten
wurde, doch sich des sichern Besitzes des Uebrigen zu erfreuen, dieser Geist
der Prüfung, der sich besonders von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an
bei den Gelehrten regte, tastete auch bald die Grundvesten, nicht der ge-


Die Glaubwürdigkeit und der Werth der ältesten
Heschichte.

Geraume Zeit, nachdem die Wissenschaften aus der Erniedrigung des
Mittelalters erstanden waren, wurde mit gläubigem Sinne Geschichte der
alten Welt gelehrt und gelernt, wie sie uns in den Meisterwerken der
griechischen und römischen Schriftsteller überliefert worden war. Kein Mi߬
trauen, das für Frevel gegolten hätte, wurde in ihre Erzählungen gesetzt
und des Egypters Sesostris. des Messeniers Aristodemos und Romulus, des
Gründers der ewigen Siebenhügelstadt, Leben lag mit eben der Gewißheit,
Klarheit und Ausführlichkeit vor unsern Augen als das des ersten Ptolemäers,
oder des Atheners Perikles, oder Caesars, der die schon erschütterte Freiheit
seines Volkes vernichtete. So lernte ein Geschlecht nach dem andern, wenn
es nach gediegener oder allgemeiner Bildung strebte, aus alten und neuen
Büchern dieselbe Reihe von Begebenheiten, ohne zu forschen, auf welchem
Grunde diese Kenntniß ruhte, ohne also in diesem Sinne die Kenntniß zur
Erkenntniß gemacht zu haben. Wenn auch vereinzelt eine Stimme des Zweifels
laut wurde, so blieb sie unbeachtet, theils weil man es für lächerlich hielt,
an dem durch eine so geraume Zeit Geheiligten zu zweifeln, theils weil man
sich auch scheute, den leichten und sichern Besitz des Erworbenen durch' eine
mühsame Forschung zu verlieren und etwas Neues erlernen zu müssen. So
groß war die Scheu, daß man selbst die wenigen Stimmen, die aus dem
Alterthume schon über die Ungewißheit der Geschichte herübertönten, überhörte,
wie z. B. des Juvenal Ausspruch von dem. was das lügende Griechenland
sich in der Geschichte erdreistete. Ja, selbst offenbare Widersprüche wurden
nicht beachtet; man sah sie und mußte sie sehen, aber man wußte sich zu
helfen. Der Widerspruch der sogenannten Profanschriftsteller gegen die Ur¬
kunden des jüdischen Volkes wurde lügenhaft, oft noch ärger genannt. Und
so wie nun Herodot in diesem Theil seiner Geschichte ein Lügner gescholten
wurde, so hieß wieder, wenn von den persischen Kriegen die Rede war, Ctesias
ein Lügner gegen ihn. Auf die Art war freilich der Knoten am bequemsten
zu lösen. Wenn übrigens auch Ctesias gerade hier geirrt haben mag, so
trägt seine ganze übrige persische Geschichte, die wir leider nur noch im Aus¬
zuge besitzen, den unverkennbaren Stempel der Wahrheit.

Aber derselbe Geist der Prüfung, der vom Zweifel ausgeht, um, wenn
auch mit Aufopferung von Manchem, was bis dahin für Eigenthum gehalten
wurde, doch sich des sichern Besitzes des Uebrigen zu erfreuen, dieser Geist
der Prüfung, der sich besonders von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an
bei den Gelehrten regte, tastete auch bald die Grundvesten, nicht der ge-


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[0470] Die Glaubwürdigkeit und der Werth der ältesten Heschichte. Geraume Zeit, nachdem die Wissenschaften aus der Erniedrigung des Mittelalters erstanden waren, wurde mit gläubigem Sinne Geschichte der alten Welt gelehrt und gelernt, wie sie uns in den Meisterwerken der griechischen und römischen Schriftsteller überliefert worden war. Kein Mi߬ trauen, das für Frevel gegolten hätte, wurde in ihre Erzählungen gesetzt und des Egypters Sesostris. des Messeniers Aristodemos und Romulus, des Gründers der ewigen Siebenhügelstadt, Leben lag mit eben der Gewißheit, Klarheit und Ausführlichkeit vor unsern Augen als das des ersten Ptolemäers, oder des Atheners Perikles, oder Caesars, der die schon erschütterte Freiheit seines Volkes vernichtete. So lernte ein Geschlecht nach dem andern, wenn es nach gediegener oder allgemeiner Bildung strebte, aus alten und neuen Büchern dieselbe Reihe von Begebenheiten, ohne zu forschen, auf welchem Grunde diese Kenntniß ruhte, ohne also in diesem Sinne die Kenntniß zur Erkenntniß gemacht zu haben. Wenn auch vereinzelt eine Stimme des Zweifels laut wurde, so blieb sie unbeachtet, theils weil man es für lächerlich hielt, an dem durch eine so geraume Zeit Geheiligten zu zweifeln, theils weil man sich auch scheute, den leichten und sichern Besitz des Erworbenen durch' eine mühsame Forschung zu verlieren und etwas Neues erlernen zu müssen. So groß war die Scheu, daß man selbst die wenigen Stimmen, die aus dem Alterthume schon über die Ungewißheit der Geschichte herübertönten, überhörte, wie z. B. des Juvenal Ausspruch von dem. was das lügende Griechenland sich in der Geschichte erdreistete. Ja, selbst offenbare Widersprüche wurden nicht beachtet; man sah sie und mußte sie sehen, aber man wußte sich zu helfen. Der Widerspruch der sogenannten Profanschriftsteller gegen die Ur¬ kunden des jüdischen Volkes wurde lügenhaft, oft noch ärger genannt. Und so wie nun Herodot in diesem Theil seiner Geschichte ein Lügner gescholten wurde, so hieß wieder, wenn von den persischen Kriegen die Rede war, Ctesias ein Lügner gegen ihn. Auf die Art war freilich der Knoten am bequemsten zu lösen. Wenn übrigens auch Ctesias gerade hier geirrt haben mag, so trägt seine ganze übrige persische Geschichte, die wir leider nur noch im Aus¬ zuge besitzen, den unverkennbaren Stempel der Wahrheit. Aber derselbe Geist der Prüfung, der vom Zweifel ausgeht, um, wenn auch mit Aufopferung von Manchem, was bis dahin für Eigenthum gehalten wurde, doch sich des sichern Besitzes des Uebrigen zu erfreuen, dieser Geist der Prüfung, der sich besonders von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an bei den Gelehrten regte, tastete auch bald die Grundvesten, nicht der ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/470>, abgerufen am 29.06.2024.