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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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theilung, als Wegweiser für das sittliche Streben der Jugend, so wird in ihr
gewiß Klugheit, Geschicklichkeit, Gewandtheit und Vorsicht hervorgebracht
werden, nicht aber die Hingabe an ideale und ewige Güter, nicht der Geist
der Liebe, Selbstverleugnung und Demuth, denen wir allein unbedingten
Werth zuerkennen können.

Haben wir mit den drei ersten Abschnitten von Spencer's Schrift wenig
übereinstimmen können, so vermögen wir zu dem letzten vierten, welcher "die
leibliche Erziehung" erörtert, unsre volle Billigung auszusprechen. Wenn wir
uns nichts destoweniger enthalten, näher auf ihn einzugehen, so geschieht es,
weil er ein Gebiet betrifft, auf dem wir uns nicht ausreichend kompetent
wissen. Wir beschränken uns daher darauf, die Forderungen Spencer's in
dieser Hinsicht zu bezeichnen. Er verlangt kräftige, wechselnde und reichliche
Nahrung, deren Maß der Appetit des Kindes selbst angiebt; eine Kleidung,
welche jedes allgemeine Gefühl der Kälte fernhält, freie Bewegung auf Spazier¬
gängen und in Spielen für beide Geschlechter, und zieht diese den Uebungen
der Turnkunst vor. Letztere findet seine Mißbilligung, da sie weniger Ab¬
wechslung gewährt und daher nicht eine so ebenmäßige Verkeilung der Thä¬
tigkeit auf alle Körpertheile herstellt, da sie in Folge dessen leichter ermüdet,
vielleicht sogar eine unproportionirte Entwicklung mit sich bringt, da sie
endlich in Betreff der Menge der gewährten Muskelarbeit so wie hinsichtlich
des hervorgebrachten Genusses hinter dem Spiel zurückbleibt. Vor allem aber
nennt er als einen Hauptfehler der modernen Erziehung das Uebermaß gei¬
stiger Anstrengung und führt, wie wir glauben, mit Recht einen großen Theil
der Krankheiten, unter denen wir und unsre Kinder leiden, auf diesen
Mangel zurück.

Das günstige Urtheil über dies letzte Kapitel kann uns indessen nicht
abhalten, der Schrift als Ganzem nur eine geringe Bedeutung zuzu¬
messen. Ihr Gesichtskreis ist sehr einseitig, der ethisch-ideale Faktor kommt
sehr wenig zur Geltung, und es ist schwer zu begreifen, wie Angesichts der
vielen ausgezeichneten pädagogischen Werke Deutschlands, hinter denen Spen¬
cer's bei weitem zurückbleibt, der Herausgeber ein so hohes Maß des Lobes
ihm zu zollen vermochte. Die ganz neue Wendung, welche Spencer's Werk
der modernen Pädagogik nach des Herausgebers Worten giebt, können wir
nur als eine höchst gefährliche bezeichnen. Wir hoffen, daß die deutsche Päda¬
gogik dieser Wendung nicht folgen wird.


H. Jacoby.


theilung, als Wegweiser für das sittliche Streben der Jugend, so wird in ihr
gewiß Klugheit, Geschicklichkeit, Gewandtheit und Vorsicht hervorgebracht
werden, nicht aber die Hingabe an ideale und ewige Güter, nicht der Geist
der Liebe, Selbstverleugnung und Demuth, denen wir allein unbedingten
Werth zuerkennen können.

Haben wir mit den drei ersten Abschnitten von Spencer's Schrift wenig
übereinstimmen können, so vermögen wir zu dem letzten vierten, welcher „die
leibliche Erziehung" erörtert, unsre volle Billigung auszusprechen. Wenn wir
uns nichts destoweniger enthalten, näher auf ihn einzugehen, so geschieht es,
weil er ein Gebiet betrifft, auf dem wir uns nicht ausreichend kompetent
wissen. Wir beschränken uns daher darauf, die Forderungen Spencer's in
dieser Hinsicht zu bezeichnen. Er verlangt kräftige, wechselnde und reichliche
Nahrung, deren Maß der Appetit des Kindes selbst angiebt; eine Kleidung,
welche jedes allgemeine Gefühl der Kälte fernhält, freie Bewegung auf Spazier¬
gängen und in Spielen für beide Geschlechter, und zieht diese den Uebungen
der Turnkunst vor. Letztere findet seine Mißbilligung, da sie weniger Ab¬
wechslung gewährt und daher nicht eine so ebenmäßige Verkeilung der Thä¬
tigkeit auf alle Körpertheile herstellt, da sie in Folge dessen leichter ermüdet,
vielleicht sogar eine unproportionirte Entwicklung mit sich bringt, da sie
endlich in Betreff der Menge der gewährten Muskelarbeit so wie hinsichtlich
des hervorgebrachten Genusses hinter dem Spiel zurückbleibt. Vor allem aber
nennt er als einen Hauptfehler der modernen Erziehung das Uebermaß gei¬
stiger Anstrengung und führt, wie wir glauben, mit Recht einen großen Theil
der Krankheiten, unter denen wir und unsre Kinder leiden, auf diesen
Mangel zurück.

Das günstige Urtheil über dies letzte Kapitel kann uns indessen nicht
abhalten, der Schrift als Ganzem nur eine geringe Bedeutung zuzu¬
messen. Ihr Gesichtskreis ist sehr einseitig, der ethisch-ideale Faktor kommt
sehr wenig zur Geltung, und es ist schwer zu begreifen, wie Angesichts der
vielen ausgezeichneten pädagogischen Werke Deutschlands, hinter denen Spen¬
cer's bei weitem zurückbleibt, der Herausgeber ein so hohes Maß des Lobes
ihm zu zollen vermochte. Die ganz neue Wendung, welche Spencer's Werk
der modernen Pädagogik nach des Herausgebers Worten giebt, können wir
nur als eine höchst gefährliche bezeichnen. Wir hoffen, daß die deutsche Päda¬
gogik dieser Wendung nicht folgen wird.


H. Jacoby.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/469>, abgerufen am 29.06.2024.