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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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ist. Der Erzieher steht frei waltend über ihm und entscheidet nach den
Zwecken liebevoller Weisheit. Seiner diskretionären Gewalt sind im Hause
sehr weite Grenzen gezogen, sie verengern sich im sehnlicher, das als Uebergang
zum öffentlichen Leben der Freiheit seiner Entschließungen größere Beschränk¬
ungen auferlegt. Aber aufgehoben ist sie auch hier nicht, bricht sie doch selbst
im Staatsleben durch und durchlöchert als Begnadigungsrecht der Obrigkeit
die Kette der Kausalitätsbeziehungen. Und das ist durchaus nothwendig und
heilsam. Denn wir müssen es als eine irrige Anschauung Spencer's betrachten,
daß die Unterwerfung unter das Causalitätsgesetz den Sinn und das Gefühl
für die Gerechtigkeit wecke und stärke. Die Kausalitäten, die in der socialen
Welt herrschen, sind keineswegs ausschließlich durch die Ideen der Gerechtig¬
keit bestimmt, sondern in erster Linie durch die Nothwendigkeit gewisse berech¬
tigte Ziele zu erreichen. Wer in diesem Wettlauf nicht zurückbleiben will, muß
bestimmte Gaben, Fertigkeiten und geistig-sittliche Eigenschaften sich erworben
haben. Aber man kann sich im Besitz dieser Ausrüstung befinden und ein
moralisch schlechter Mensch sein, boshaft, lüderlich. selbstsüchtig.

Man kann umgekehrt jene Ausrüstung entbehren und ein sehr hohes
Maß von sittlichem Werth besitzen, sich durch Herzensgüte, Aufopferungs¬
fähigkeit und Reinheit auszeichnen. Es ist ganz in der Ordnung, daß jener
einen größeren Erfolg davon trägt als dieser, denn ihm ist ein höheres Ge¬
schick eigen sich in der Gesellschaft geltend zu machen und ihre Funktionen zu
vollziehen. Wir wollen nicht läugnen, daß auch hier eine gewisse Ge¬
rechtigkeit, ein suum vulgus waltet. Noch weit weniger sind wir davon
entfernt, es zu mißbilligen, wenn die Pädagogik ernstlich darauf bedacht ist,
der Jugend die Waffen zu reichen und zu ihrer Uebung zu befähigen, welche
sie vor schmerzlichen Enttäuschungen bewahren und ihrer Arbeit Erfolg sichern.
Wir können eine solche Richtung der Pädagogik nur im vollsten Maße an¬
erkennen. Aber dagegen müssen wir uns verwahren, daß es nur darauf
ankomme, diese Ausrüstung der Jugend zu geben, und daß die Gerechtigkeit
des sozialen Lebens es sei, für welche in erster Linie die Jugend erzogen
werden müsse. Die Gerechtigkeit, die uns höher steht als jene, die im vollen
Sinne diesen Namen verdient, und die wir vor allem der Jugend in das
Herz zu pflanzen haben, schließt jene Ausgleichung sozialer Tüchtigkeit und
sozialer Erfolge als ein Moment in sich, findet aber nur in dem Gemein¬
schaftsleben ihre volle Realität, in welcher die sittlichen und die sinnlichen
Werthe sich decken, die sittlich Guten herrschen und die sittlich Schlechten zu
Grunde gehen. Für diese ideale Gerechtigkeit soll die Jugend begeistert
werden, und sie soll den Maßstab der pädagogischen Strafe bilden, jene Ge¬
rechtigkeit des Kausalitätsgesetzes aber nur, insofern sie als ihr Ausdruck
erscheint. Erscheint dagegen jene soziale Gerechtigkeit als Maßstab der Beur-


ist. Der Erzieher steht frei waltend über ihm und entscheidet nach den
Zwecken liebevoller Weisheit. Seiner diskretionären Gewalt sind im Hause
sehr weite Grenzen gezogen, sie verengern sich im sehnlicher, das als Uebergang
zum öffentlichen Leben der Freiheit seiner Entschließungen größere Beschränk¬
ungen auferlegt. Aber aufgehoben ist sie auch hier nicht, bricht sie doch selbst
im Staatsleben durch und durchlöchert als Begnadigungsrecht der Obrigkeit
die Kette der Kausalitätsbeziehungen. Und das ist durchaus nothwendig und
heilsam. Denn wir müssen es als eine irrige Anschauung Spencer's betrachten,
daß die Unterwerfung unter das Causalitätsgesetz den Sinn und das Gefühl
für die Gerechtigkeit wecke und stärke. Die Kausalitäten, die in der socialen
Welt herrschen, sind keineswegs ausschließlich durch die Ideen der Gerechtig¬
keit bestimmt, sondern in erster Linie durch die Nothwendigkeit gewisse berech¬
tigte Ziele zu erreichen. Wer in diesem Wettlauf nicht zurückbleiben will, muß
bestimmte Gaben, Fertigkeiten und geistig-sittliche Eigenschaften sich erworben
haben. Aber man kann sich im Besitz dieser Ausrüstung befinden und ein
moralisch schlechter Mensch sein, boshaft, lüderlich. selbstsüchtig.

Man kann umgekehrt jene Ausrüstung entbehren und ein sehr hohes
Maß von sittlichem Werth besitzen, sich durch Herzensgüte, Aufopferungs¬
fähigkeit und Reinheit auszeichnen. Es ist ganz in der Ordnung, daß jener
einen größeren Erfolg davon trägt als dieser, denn ihm ist ein höheres Ge¬
schick eigen sich in der Gesellschaft geltend zu machen und ihre Funktionen zu
vollziehen. Wir wollen nicht läugnen, daß auch hier eine gewisse Ge¬
rechtigkeit, ein suum vulgus waltet. Noch weit weniger sind wir davon
entfernt, es zu mißbilligen, wenn die Pädagogik ernstlich darauf bedacht ist,
der Jugend die Waffen zu reichen und zu ihrer Uebung zu befähigen, welche
sie vor schmerzlichen Enttäuschungen bewahren und ihrer Arbeit Erfolg sichern.
Wir können eine solche Richtung der Pädagogik nur im vollsten Maße an¬
erkennen. Aber dagegen müssen wir uns verwahren, daß es nur darauf
ankomme, diese Ausrüstung der Jugend zu geben, und daß die Gerechtigkeit
des sozialen Lebens es sei, für welche in erster Linie die Jugend erzogen
werden müsse. Die Gerechtigkeit, die uns höher steht als jene, die im vollen
Sinne diesen Namen verdient, und die wir vor allem der Jugend in das
Herz zu pflanzen haben, schließt jene Ausgleichung sozialer Tüchtigkeit und
sozialer Erfolge als ein Moment in sich, findet aber nur in dem Gemein¬
schaftsleben ihre volle Realität, in welcher die sittlichen und die sinnlichen
Werthe sich decken, die sittlich Guten herrschen und die sittlich Schlechten zu
Grunde gehen. Für diese ideale Gerechtigkeit soll die Jugend begeistert
werden, und sie soll den Maßstab der pädagogischen Strafe bilden, jene Ge¬
rechtigkeit des Kausalitätsgesetzes aber nur, insofern sie als ihr Ausdruck
erscheint. Erscheint dagegen jene soziale Gerechtigkeit als Maßstab der Beur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/468>, abgerufen am 28.09.2024.