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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Wenn aber das geistige und sittliche Leben des Volks sich im Monarchen
sammelt, und wenn seine eignen Ideen im Leben des Volks wiederhallen,
wenn der Monarch der Repräsentant und Ausdruck des Volksgeistes ist, dann
wird es sich die Geschichte nicht nehmen lassen, mit Liebe und Sorgfalt sich
in die Geschicke und Thaten der Monarchen zu vertiefen.

Ebenso wenig stichhaltig sind die Vorwürfe, welche Spencer gegen das
Studium der Sprachen in den Schulen erhebt. Sie sollen den blinden Auto'
ritätsglauben stärken. Aber in Wirklichkeit thun sie es ebenso wenig wie die
Naturwissenschaften und ebenso viel. Empfängt nicht der Schüler den Beweis
von der Richtigkeit der ihm mitgetheilten Regeln und Wortbedeutungen, in¬
dem sie sich ihm als Schlüssel des Verständnisses für die Schriftsteller be¬
währen , deren Werke er liest; ist nicht das Experiment auch hier Beweis¬
mittel! Und wiederum auf dem Gebiet der Naturwissenschaften -- denn
dahin wird doch wohl nicht bloß Physik, Chemie, Astronomie, sondern auch
Zoologie, Botanik, Mineralogie, Geologie, Geographie gehören -- wieviel
wird der Schüler dem Lehrer auf dessen Autorität hin glauben müssen, da sich
das unendlich große Beweis-Material theils nicht für jede Schule theils über¬
haupt nicht beschaffen läßt. Letzteres gilt für die Geographie, ersteres für
Botanik und Zoologie. Oder soll der Schüler nichts von einem ausländischen
Thier oder einer ausländischen Pflanze hören, weil sich am Orte kein zoolo¬
gischer oder botanischer Garten befindet? Ja, selbst wären diese Institute vor¬
handen , sie genügten nicht, denn sie zeigen uns nicht die Thiere in ihrem
wilden Naturzustande, und weder diese Thiere noch diese Pflanzen stehen den
Schulen zur Verfügung für anatomische Operationen, ohne welche so manches
auf Autorität hin angenommen werden muß. Und hierbei haben wir noch
nicht einmal die Einwirkungen in Betracht gezogen, welche klimatische Ver¬
änderungen auf Thiere und Pflanzen ausüben. Die Rolle, welche die Auto¬
rität in dem Vortrag der Naturwissenschaften spielt, ist keine geringere als
ihr für den Unterricht in den Sprachen zukommt. Und daher haben beide
für die Befreiung des Geistes in gleichem Maße gearbeitet. Spencer scheint
es vergessen zu haben, daß die Wiedererweckung der klassischen Sprachen im
Is. Jahrhundert die Erneuerung des geistigen Lebens unter den Kultur¬
völkern Europas hervorgebracht und der Reformation das schneidige Messer
der Kritik in die Hand gegeben hat, mit der sie die Ansprüche der Hierarchie
widerlegte.

Eben deshalb hat Luther so energisch auf das Studium der Sprachen
gedrungen und in der Schrift an die Bürgermeister und Rathsherrn aller
Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen,
von 1524 ausgerufen: "Lasset uns das gesagt sein, daß wir das Evangelium
nicht wohl werden erhalten ohne die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheide,


Wenn aber das geistige und sittliche Leben des Volks sich im Monarchen
sammelt, und wenn seine eignen Ideen im Leben des Volks wiederhallen,
wenn der Monarch der Repräsentant und Ausdruck des Volksgeistes ist, dann
wird es sich die Geschichte nicht nehmen lassen, mit Liebe und Sorgfalt sich
in die Geschicke und Thaten der Monarchen zu vertiefen.

Ebenso wenig stichhaltig sind die Vorwürfe, welche Spencer gegen das
Studium der Sprachen in den Schulen erhebt. Sie sollen den blinden Auto'
ritätsglauben stärken. Aber in Wirklichkeit thun sie es ebenso wenig wie die
Naturwissenschaften und ebenso viel. Empfängt nicht der Schüler den Beweis
von der Richtigkeit der ihm mitgetheilten Regeln und Wortbedeutungen, in¬
dem sie sich ihm als Schlüssel des Verständnisses für die Schriftsteller be¬
währen , deren Werke er liest; ist nicht das Experiment auch hier Beweis¬
mittel! Und wiederum auf dem Gebiet der Naturwissenschaften — denn
dahin wird doch wohl nicht bloß Physik, Chemie, Astronomie, sondern auch
Zoologie, Botanik, Mineralogie, Geologie, Geographie gehören — wieviel
wird der Schüler dem Lehrer auf dessen Autorität hin glauben müssen, da sich
das unendlich große Beweis-Material theils nicht für jede Schule theils über¬
haupt nicht beschaffen läßt. Letzteres gilt für die Geographie, ersteres für
Botanik und Zoologie. Oder soll der Schüler nichts von einem ausländischen
Thier oder einer ausländischen Pflanze hören, weil sich am Orte kein zoolo¬
gischer oder botanischer Garten befindet? Ja, selbst wären diese Institute vor¬
handen , sie genügten nicht, denn sie zeigen uns nicht die Thiere in ihrem
wilden Naturzustande, und weder diese Thiere noch diese Pflanzen stehen den
Schulen zur Verfügung für anatomische Operationen, ohne welche so manches
auf Autorität hin angenommen werden muß. Und hierbei haben wir noch
nicht einmal die Einwirkungen in Betracht gezogen, welche klimatische Ver¬
änderungen auf Thiere und Pflanzen ausüben. Die Rolle, welche die Auto¬
rität in dem Vortrag der Naturwissenschaften spielt, ist keine geringere als
ihr für den Unterricht in den Sprachen zukommt. Und daher haben beide
für die Befreiung des Geistes in gleichem Maße gearbeitet. Spencer scheint
es vergessen zu haben, daß die Wiedererweckung der klassischen Sprachen im
Is. Jahrhundert die Erneuerung des geistigen Lebens unter den Kultur¬
völkern Europas hervorgebracht und der Reformation das schneidige Messer
der Kritik in die Hand gegeben hat, mit der sie die Ansprüche der Hierarchie
widerlegte.

Eben deshalb hat Luther so energisch auf das Studium der Sprachen
gedrungen und in der Schrift an die Bürgermeister und Rathsherrn aller
Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen,
von 1524 ausgerufen: „Lasset uns das gesagt sein, daß wir das Evangelium
nicht wohl werden erhalten ohne die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheide,


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[0464] Wenn aber das geistige und sittliche Leben des Volks sich im Monarchen sammelt, und wenn seine eignen Ideen im Leben des Volks wiederhallen, wenn der Monarch der Repräsentant und Ausdruck des Volksgeistes ist, dann wird es sich die Geschichte nicht nehmen lassen, mit Liebe und Sorgfalt sich in die Geschicke und Thaten der Monarchen zu vertiefen. Ebenso wenig stichhaltig sind die Vorwürfe, welche Spencer gegen das Studium der Sprachen in den Schulen erhebt. Sie sollen den blinden Auto' ritätsglauben stärken. Aber in Wirklichkeit thun sie es ebenso wenig wie die Naturwissenschaften und ebenso viel. Empfängt nicht der Schüler den Beweis von der Richtigkeit der ihm mitgetheilten Regeln und Wortbedeutungen, in¬ dem sie sich ihm als Schlüssel des Verständnisses für die Schriftsteller be¬ währen , deren Werke er liest; ist nicht das Experiment auch hier Beweis¬ mittel! Und wiederum auf dem Gebiet der Naturwissenschaften — denn dahin wird doch wohl nicht bloß Physik, Chemie, Astronomie, sondern auch Zoologie, Botanik, Mineralogie, Geologie, Geographie gehören — wieviel wird der Schüler dem Lehrer auf dessen Autorität hin glauben müssen, da sich das unendlich große Beweis-Material theils nicht für jede Schule theils über¬ haupt nicht beschaffen läßt. Letzteres gilt für die Geographie, ersteres für Botanik und Zoologie. Oder soll der Schüler nichts von einem ausländischen Thier oder einer ausländischen Pflanze hören, weil sich am Orte kein zoolo¬ gischer oder botanischer Garten befindet? Ja, selbst wären diese Institute vor¬ handen , sie genügten nicht, denn sie zeigen uns nicht die Thiere in ihrem wilden Naturzustande, und weder diese Thiere noch diese Pflanzen stehen den Schulen zur Verfügung für anatomische Operationen, ohne welche so manches auf Autorität hin angenommen werden muß. Und hierbei haben wir noch nicht einmal die Einwirkungen in Betracht gezogen, welche klimatische Ver¬ änderungen auf Thiere und Pflanzen ausüben. Die Rolle, welche die Auto¬ rität in dem Vortrag der Naturwissenschaften spielt, ist keine geringere als ihr für den Unterricht in den Sprachen zukommt. Und daher haben beide für die Befreiung des Geistes in gleichem Maße gearbeitet. Spencer scheint es vergessen zu haben, daß die Wiedererweckung der klassischen Sprachen im Is. Jahrhundert die Erneuerung des geistigen Lebens unter den Kultur¬ völkern Europas hervorgebracht und der Reformation das schneidige Messer der Kritik in die Hand gegeben hat, mit der sie die Ansprüche der Hierarchie widerlegte. Eben deshalb hat Luther so energisch auf das Studium der Sprachen gedrungen und in der Schrift an die Bürgermeister und Rathsherrn aller Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, von 1524 ausgerufen: „Lasset uns das gesagt sein, daß wir das Evangelium nicht wohl werden erhalten ohne die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheide,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/464>, abgerufen am 29.06.2024.