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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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der angebornen individuellen Natur, die fortwirkende Kraft der einmal einge¬
schlagnen Richtung und der Einfluß der umgebenden Welt. Erst wenn die
Geschichte das Verständniß der individuellen Persönlichkeit in ihrer bedingenden
und bedingten Beziehung zu den Verhältnissen, in deren Mitte sie steht, er¬
schlossen hat, kann die vergleichende Gesellschaftskunde zum Gewinn werden.
Denn die Gesellschaft ist ja doch nichts anders als die Summe gleichzeitig
lebender und durch die Verschiedenheiten des Orts, des Berufs, leiblich-geistiger
Beschaffenheit und der Verhältnisse individuell gearteter Persönlichkeiten, in
ihrer Wechselwirkung zu einander betrachtet. Also wir protestiren gegen die
Verdrängung der Geschichtswissenschaft durch die beschreibende Gesellschafts¬
kunde, weit ihr eine Entwerthung der individuellen Persönlichkeit und eine
Ueberschätzung der Masse zu Grunde liegt, in welcher ja jene auf ein Mini¬
mum zurückgeführt wird. Wir protestiren gegen jene Verdrängung, weil sie
einer Auflösung der Geschichte in die Naturgeschichte das Wort redet, die
menschliche Freiheit vernichtet und das sittliche Leben zu einem Rechenexempel
macht, das jeder zu lösen vermag, der sich hinreichend mit Qualität und
Quantität der wirksamen Faktoren vertraut gemacht hat. Einem solchen
Rationalismus aber, der nur mechanische Vorgänge kennt, bleiben die inner¬
sten Geheimnisse des menschlichen Geistes verborgen, er erobert unwesent¬
liche Außenwerke und wähnt in der Festung selbst sich als Sieger zu be¬
finden.

Spencer spottet darüber, daß die Geschichte sich mit solchen unter¬
geordneten Thatsachen wie Schlachten und Lebensverhältnissen der Monarchen
beschäftige. Uns scheint dieser Spott sehr unbegründet. In den Schlachten
entscheiden sich die Geschicke der Völker, ihr Muth und ihre Thatkraft, ihr
Heidenthum und ihre Begeisterung kommen hier zur vollen Geltung. Und
daher ist niemand so volksthümlich wie der große Feldherr, die Kämpfer in
der Schlacht besingen die herrlichsten Lieder ältster und neuster Zeit, und die
öffentlichen Denkmale sind zum größesten Theile ihnen geweiht. Der Krieg
ist gewiß ein entsetzliches Uebel, eine schreckliche Nothwendigkeit, aber er ist
geadelt durch die Hingabe des Einzelnen an das Allgemeine, durch die Selbst¬
verleugnung, mit welcher der Einzelne das höchste, was er besitzt, sein Leben,
zum Heil des Vaterlandes daran giebt. Und deshalb wird die Schule nicht
aufhören können, den Kriegen und Schlachten einen nicht geringen Theil
im Vortrag der Geschichte zu bewahren. Nicht minder werden die Biographien
der Monarchen auch ferner den Anspruch erheben, der ihnen bis jetzt zuerkannt
worden ist. Nimmt freilich ein Monarch nur die Stellung des höchsten
Privatmanns ein, hat die Monarchie nur den Werth, den Kampf des Ehr¬
geizes um die höchste Rangstufe im Staat zu beseitigen, dann ist es thöricht und
eine Zeitverschwendung, mit Monarchen dieser Art sich lange aus zu halten.


der angebornen individuellen Natur, die fortwirkende Kraft der einmal einge¬
schlagnen Richtung und der Einfluß der umgebenden Welt. Erst wenn die
Geschichte das Verständniß der individuellen Persönlichkeit in ihrer bedingenden
und bedingten Beziehung zu den Verhältnissen, in deren Mitte sie steht, er¬
schlossen hat, kann die vergleichende Gesellschaftskunde zum Gewinn werden.
Denn die Gesellschaft ist ja doch nichts anders als die Summe gleichzeitig
lebender und durch die Verschiedenheiten des Orts, des Berufs, leiblich-geistiger
Beschaffenheit und der Verhältnisse individuell gearteter Persönlichkeiten, in
ihrer Wechselwirkung zu einander betrachtet. Also wir protestiren gegen die
Verdrängung der Geschichtswissenschaft durch die beschreibende Gesellschafts¬
kunde, weit ihr eine Entwerthung der individuellen Persönlichkeit und eine
Ueberschätzung der Masse zu Grunde liegt, in welcher ja jene auf ein Mini¬
mum zurückgeführt wird. Wir protestiren gegen jene Verdrängung, weil sie
einer Auflösung der Geschichte in die Naturgeschichte das Wort redet, die
menschliche Freiheit vernichtet und das sittliche Leben zu einem Rechenexempel
macht, das jeder zu lösen vermag, der sich hinreichend mit Qualität und
Quantität der wirksamen Faktoren vertraut gemacht hat. Einem solchen
Rationalismus aber, der nur mechanische Vorgänge kennt, bleiben die inner¬
sten Geheimnisse des menschlichen Geistes verborgen, er erobert unwesent¬
liche Außenwerke und wähnt in der Festung selbst sich als Sieger zu be¬
finden.

Spencer spottet darüber, daß die Geschichte sich mit solchen unter¬
geordneten Thatsachen wie Schlachten und Lebensverhältnissen der Monarchen
beschäftige. Uns scheint dieser Spott sehr unbegründet. In den Schlachten
entscheiden sich die Geschicke der Völker, ihr Muth und ihre Thatkraft, ihr
Heidenthum und ihre Begeisterung kommen hier zur vollen Geltung. Und
daher ist niemand so volksthümlich wie der große Feldherr, die Kämpfer in
der Schlacht besingen die herrlichsten Lieder ältster und neuster Zeit, und die
öffentlichen Denkmale sind zum größesten Theile ihnen geweiht. Der Krieg
ist gewiß ein entsetzliches Uebel, eine schreckliche Nothwendigkeit, aber er ist
geadelt durch die Hingabe des Einzelnen an das Allgemeine, durch die Selbst¬
verleugnung, mit welcher der Einzelne das höchste, was er besitzt, sein Leben,
zum Heil des Vaterlandes daran giebt. Und deshalb wird die Schule nicht
aufhören können, den Kriegen und Schlachten einen nicht geringen Theil
im Vortrag der Geschichte zu bewahren. Nicht minder werden die Biographien
der Monarchen auch ferner den Anspruch erheben, der ihnen bis jetzt zuerkannt
worden ist. Nimmt freilich ein Monarch nur die Stellung des höchsten
Privatmanns ein, hat die Monarchie nur den Werth, den Kampf des Ehr¬
geizes um die höchste Rangstufe im Staat zu beseitigen, dann ist es thöricht und
eine Zeitverschwendung, mit Monarchen dieser Art sich lange aus zu halten.


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[0463] der angebornen individuellen Natur, die fortwirkende Kraft der einmal einge¬ schlagnen Richtung und der Einfluß der umgebenden Welt. Erst wenn die Geschichte das Verständniß der individuellen Persönlichkeit in ihrer bedingenden und bedingten Beziehung zu den Verhältnissen, in deren Mitte sie steht, er¬ schlossen hat, kann die vergleichende Gesellschaftskunde zum Gewinn werden. Denn die Gesellschaft ist ja doch nichts anders als die Summe gleichzeitig lebender und durch die Verschiedenheiten des Orts, des Berufs, leiblich-geistiger Beschaffenheit und der Verhältnisse individuell gearteter Persönlichkeiten, in ihrer Wechselwirkung zu einander betrachtet. Also wir protestiren gegen die Verdrängung der Geschichtswissenschaft durch die beschreibende Gesellschafts¬ kunde, weit ihr eine Entwerthung der individuellen Persönlichkeit und eine Ueberschätzung der Masse zu Grunde liegt, in welcher ja jene auf ein Mini¬ mum zurückgeführt wird. Wir protestiren gegen jene Verdrängung, weil sie einer Auflösung der Geschichte in die Naturgeschichte das Wort redet, die menschliche Freiheit vernichtet und das sittliche Leben zu einem Rechenexempel macht, das jeder zu lösen vermag, der sich hinreichend mit Qualität und Quantität der wirksamen Faktoren vertraut gemacht hat. Einem solchen Rationalismus aber, der nur mechanische Vorgänge kennt, bleiben die inner¬ sten Geheimnisse des menschlichen Geistes verborgen, er erobert unwesent¬ liche Außenwerke und wähnt in der Festung selbst sich als Sieger zu be¬ finden. Spencer spottet darüber, daß die Geschichte sich mit solchen unter¬ geordneten Thatsachen wie Schlachten und Lebensverhältnissen der Monarchen beschäftige. Uns scheint dieser Spott sehr unbegründet. In den Schlachten entscheiden sich die Geschicke der Völker, ihr Muth und ihre Thatkraft, ihr Heidenthum und ihre Begeisterung kommen hier zur vollen Geltung. Und daher ist niemand so volksthümlich wie der große Feldherr, die Kämpfer in der Schlacht besingen die herrlichsten Lieder ältster und neuster Zeit, und die öffentlichen Denkmale sind zum größesten Theile ihnen geweiht. Der Krieg ist gewiß ein entsetzliches Uebel, eine schreckliche Nothwendigkeit, aber er ist geadelt durch die Hingabe des Einzelnen an das Allgemeine, durch die Selbst¬ verleugnung, mit welcher der Einzelne das höchste, was er besitzt, sein Leben, zum Heil des Vaterlandes daran giebt. Und deshalb wird die Schule nicht aufhören können, den Kriegen und Schlachten einen nicht geringen Theil im Vortrag der Geschichte zu bewahren. Nicht minder werden die Biographien der Monarchen auch ferner den Anspruch erheben, der ihnen bis jetzt zuerkannt worden ist. Nimmt freilich ein Monarch nur die Stellung des höchsten Privatmanns ein, hat die Monarchie nur den Werth, den Kampf des Ehr¬ geizes um die höchste Rangstufe im Staat zu beseitigen, dann ist es thöricht und eine Zeitverschwendung, mit Monarchen dieser Art sich lange aus zu halten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/463>, abgerufen am 29.06.2024.