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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Regel laute, diese oder jene Bedeutung einem bestimmten Worte zukomme,
das muß der Schüler eben auf Treue und Glauben hinnehmen. Er kann
nicht prüfen, ob es sich so verhalte. So beantwortet Spencer die Frage,
welches Wissen hat den größten Werth.

Daß diese Antwort uns nicht befriedigen kann, leuchtet ein. Sie schließt eine
maßlose Ueberschätzung der Naturwissenschaft und eine maßlose Unterschätzung der
historischen und philologischen Wissenschaft in sich. Wir sind gewiß weit entfernt,
jener den hohen Werth abzuerkennen, auf den sie einen so gerechten Anspruch hat,
und sie aus dem Kreise der Disziplinen zu verdrängen, in welche der Schüler einge¬
führt werden muß, aber wir wollen auch, daß Geschichte und Sprachen den
Platz behalten, welchen sie nun fast seit zweitausend Jahren einnehmen. Und
auch unsre Werthschätzung jener beiden Gruppen der Wissenschaft ist eine
andre. Die Naturwissenschaft orientirt uns auf dem Gebiete der sichtbaren
Welt, in dem Reiche der Erscheinungen, wir blicken bewundernd auf die fol¬
genreichen Entdeckungen und Erfindungen, welchen das Kulturleben der Ge¬
genwart so unendlich viel verdankt, wir schauen ehrfurchtsvoll in den gesetz¬
lich geordneten Zusammenhang der Dinge, den sie uns enthüllt, aber dürfen
wir es vergessen, daß, wie H. Lotze mit Recht so energisch betont, wir es
hier immer nur mit den Mitteln, aber nicht mit den Zwecken des irdi¬
schen Daseins zu thun haben? Nicht das bewußtlose blinde Walten der
Natur, sondern das bewußte freie Leben des Menschen bildet den Zweck, um
dessen willen die irdische Welt vorhanden ist. Die ideale sittliche Entfaltung
des Menschengeistes, das ist die Aufgabe, deren Lösung die sichtbaren Dinge
dienen wollen. Der Mensch ist die Krone und Vollendung der irdischen Schöpfung,
sein geistiges und sittliches Leben der werthvollste Bestandtheil derselben,
und eben deshalb giebt es nichts bildenderes für den Menschen als ihn selbst,
als die Kenntniß der Menschen, seines Wesens, seiner Entwicklung, seiner
Werke. Und diese wird uns nicht in erster Linie durch eine beschreibende Ge¬
sellschaftskunde vermittelt, welche es ausschließlich mit den Massen zu thun
hat, sondern durch die Geschichte, welche ebenso diese wie die tragenden und
bestimmenden Persönlichkeiten in's Auge faßt. Denn die Persönlichkeit ist der
Herd und Ausgangspunkt des sittlichen Lebens, in ihr verwirklicht sich das
Suchen und Sehnen, das Ringen und Streben des Menschengeistes, in ihr
schauen wir ebenso das langsame Werden des gediegnen Charakters, die all¬
mähliche Bildung des hervorragenden Talents, die Macht der idealen Begeiste¬
rung und den Erfolg rastloser Arbeit, wie die Entartung der Gesinnung durch
Leidenschaft oder Schwäche und den Untergang reichbegabter Naturen, welche
planlos einzelnen zufälligen Regungen folgten und sich nicht der Zucht des
Geistes und Gesetzes unterwarfen. Und wir sehen hier unlösbar in einander
verschlungen die Wirksamkeit der Freiheit des Subjekts, die bedingende Gewalt


Regel laute, diese oder jene Bedeutung einem bestimmten Worte zukomme,
das muß der Schüler eben auf Treue und Glauben hinnehmen. Er kann
nicht prüfen, ob es sich so verhalte. So beantwortet Spencer die Frage,
welches Wissen hat den größten Werth.

Daß diese Antwort uns nicht befriedigen kann, leuchtet ein. Sie schließt eine
maßlose Ueberschätzung der Naturwissenschaft und eine maßlose Unterschätzung der
historischen und philologischen Wissenschaft in sich. Wir sind gewiß weit entfernt,
jener den hohen Werth abzuerkennen, auf den sie einen so gerechten Anspruch hat,
und sie aus dem Kreise der Disziplinen zu verdrängen, in welche der Schüler einge¬
führt werden muß, aber wir wollen auch, daß Geschichte und Sprachen den
Platz behalten, welchen sie nun fast seit zweitausend Jahren einnehmen. Und
auch unsre Werthschätzung jener beiden Gruppen der Wissenschaft ist eine
andre. Die Naturwissenschaft orientirt uns auf dem Gebiete der sichtbaren
Welt, in dem Reiche der Erscheinungen, wir blicken bewundernd auf die fol¬
genreichen Entdeckungen und Erfindungen, welchen das Kulturleben der Ge¬
genwart so unendlich viel verdankt, wir schauen ehrfurchtsvoll in den gesetz¬
lich geordneten Zusammenhang der Dinge, den sie uns enthüllt, aber dürfen
wir es vergessen, daß, wie H. Lotze mit Recht so energisch betont, wir es
hier immer nur mit den Mitteln, aber nicht mit den Zwecken des irdi¬
schen Daseins zu thun haben? Nicht das bewußtlose blinde Walten der
Natur, sondern das bewußte freie Leben des Menschen bildet den Zweck, um
dessen willen die irdische Welt vorhanden ist. Die ideale sittliche Entfaltung
des Menschengeistes, das ist die Aufgabe, deren Lösung die sichtbaren Dinge
dienen wollen. Der Mensch ist die Krone und Vollendung der irdischen Schöpfung,
sein geistiges und sittliches Leben der werthvollste Bestandtheil derselben,
und eben deshalb giebt es nichts bildenderes für den Menschen als ihn selbst,
als die Kenntniß der Menschen, seines Wesens, seiner Entwicklung, seiner
Werke. Und diese wird uns nicht in erster Linie durch eine beschreibende Ge¬
sellschaftskunde vermittelt, welche es ausschließlich mit den Massen zu thun
hat, sondern durch die Geschichte, welche ebenso diese wie die tragenden und
bestimmenden Persönlichkeiten in's Auge faßt. Denn die Persönlichkeit ist der
Herd und Ausgangspunkt des sittlichen Lebens, in ihr verwirklicht sich das
Suchen und Sehnen, das Ringen und Streben des Menschengeistes, in ihr
schauen wir ebenso das langsame Werden des gediegnen Charakters, die all¬
mähliche Bildung des hervorragenden Talents, die Macht der idealen Begeiste¬
rung und den Erfolg rastloser Arbeit, wie die Entartung der Gesinnung durch
Leidenschaft oder Schwäche und den Untergang reichbegabter Naturen, welche
planlos einzelnen zufälligen Regungen folgten und sich nicht der Zucht des
Geistes und Gesetzes unterwarfen. Und wir sehen hier unlösbar in einander
verschlungen die Wirksamkeit der Freiheit des Subjekts, die bedingende Gewalt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/462>, abgerufen am 29.06.2024.