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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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aussetzung für den rationellen Betrieb der Landwirthschaft bildet, endlich die
Wissenschaft der Gesellschaft, deren der Handel bedarf. Auf einer andern
Linie steht die Pädagogik, welche physiologische und psychologische Kenntnisse
in sich schließt, und mit der jeder vertraut sein müßte, bevor er das so wich¬
tige und so verantwortliche Amt der Kindererziehung übernimmt, so wie die
beschreibende Gesellschaftskunde, welche den Bürger in den Stand setzt, seine
Rechte und Pflichten auszuüben. Schließlich den Mußetheil des Lebens aus¬
zufüllen, ist die Aufgabe der Kunst und Poesie, die aber auch weder hervor¬
gebracht noch gewürdigt werden können ohne Kenntniß der Wissenschaft.
Und diese Wissenschaften, deren Aneignung uns befähigt, die Thätigkeiten
richtig zu leiten, welche das menschliche Leben ausmachen, sie sind es auch,
welche das beste Mittel der Uebung und Stärkung unsrer Kräfte gewähren.
Welche Fülle von Stoff nöthigen sie das Gedächtniß aufzunehmen, wie ge¬
eignet sind sie, die Fähigkeit des richtigen Urtheilers zu verleihen, welche
Selbstständigkeit, Freiheit und Unbefangenheit, welche Beharrlichkeit und Auf¬
richtigkeit bringen sie hervor! Und weit entfernt, irreligiös zu stimmen, we¬
cken sie gerade die Religiosität. "Die Hingabe an die Wissenschaft ist ein
stiller Gottesdienst, eine schweigende Anerkennung des in den Dingen' und
damit auch in derer Urheber erkannten Werthes".*). Die 'Wissenschaft er¬
weckt ferner Religiosität, insofern sie die Achtung gegen die in allen Dingen
sich offenbarende Gesetzlichkeit und den Glauben an die unverrückliche Ver¬
knüpfung von Ursache und Wirkung, an die Nothwendigkeit guter oder übler
Folgen erzeugt. Sie ruft endlich eine wahrhaft religiöse Stimmung hervor,
indem sie demüthig ihre eigenen Grenzen erkennt und inne wird, daß der
Urgrund der Dinge von einem Schleier verhüllt wird, den niemand zu lüf¬
ten vermag.

Das ist die Wissenschaft, welche auf unsern Schulen gelehrt und gelernt
werden sollte, aber leider von denselben nur in geringem Maße verbreitet
wird. Und was stellen sie in den Vordergrund? Die Geschichte und die Spra¬
chen, Unterrichtsgegenstände, denen ein sehr geringes Maß bildender Kraft
einwohnt. Welcher Gewinn ist von der Kenntniß der Lebensbeschreibungen
der Monarchen, der Vertrautheit mit Hofintriguen, Verschwörungen, Länder¬
raub, Schlachten und Heerführern zu erwarten! Und die Aneignung der
Sprache, nöthigt sie nicht Beziehungen in uns aufzunehmen, welche, an sich
vielleicht einer Naturnothwendigkeit entsprungen, uns doch nur als zufällige
erscheinen, so daß sie zwar das Gedächtniß, nicht aber den Verstand übt?
Ja sie wirkt sogar moralisch schädlich, invem sie Unterordnung unter die
Autorität, dogmatische Befangenheit begünstigt; denn daß so und so die



') S. 66 -- 67.

aussetzung für den rationellen Betrieb der Landwirthschaft bildet, endlich die
Wissenschaft der Gesellschaft, deren der Handel bedarf. Auf einer andern
Linie steht die Pädagogik, welche physiologische und psychologische Kenntnisse
in sich schließt, und mit der jeder vertraut sein müßte, bevor er das so wich¬
tige und so verantwortliche Amt der Kindererziehung übernimmt, so wie die
beschreibende Gesellschaftskunde, welche den Bürger in den Stand setzt, seine
Rechte und Pflichten auszuüben. Schließlich den Mußetheil des Lebens aus¬
zufüllen, ist die Aufgabe der Kunst und Poesie, die aber auch weder hervor¬
gebracht noch gewürdigt werden können ohne Kenntniß der Wissenschaft.
Und diese Wissenschaften, deren Aneignung uns befähigt, die Thätigkeiten
richtig zu leiten, welche das menschliche Leben ausmachen, sie sind es auch,
welche das beste Mittel der Uebung und Stärkung unsrer Kräfte gewähren.
Welche Fülle von Stoff nöthigen sie das Gedächtniß aufzunehmen, wie ge¬
eignet sind sie, die Fähigkeit des richtigen Urtheilers zu verleihen, welche
Selbstständigkeit, Freiheit und Unbefangenheit, welche Beharrlichkeit und Auf¬
richtigkeit bringen sie hervor! Und weit entfernt, irreligiös zu stimmen, we¬
cken sie gerade die Religiosität. „Die Hingabe an die Wissenschaft ist ein
stiller Gottesdienst, eine schweigende Anerkennung des in den Dingen' und
damit auch in derer Urheber erkannten Werthes".*). Die 'Wissenschaft er¬
weckt ferner Religiosität, insofern sie die Achtung gegen die in allen Dingen
sich offenbarende Gesetzlichkeit und den Glauben an die unverrückliche Ver¬
knüpfung von Ursache und Wirkung, an die Nothwendigkeit guter oder übler
Folgen erzeugt. Sie ruft endlich eine wahrhaft religiöse Stimmung hervor,
indem sie demüthig ihre eigenen Grenzen erkennt und inne wird, daß der
Urgrund der Dinge von einem Schleier verhüllt wird, den niemand zu lüf¬
ten vermag.

Das ist die Wissenschaft, welche auf unsern Schulen gelehrt und gelernt
werden sollte, aber leider von denselben nur in geringem Maße verbreitet
wird. Und was stellen sie in den Vordergrund? Die Geschichte und die Spra¬
chen, Unterrichtsgegenstände, denen ein sehr geringes Maß bildender Kraft
einwohnt. Welcher Gewinn ist von der Kenntniß der Lebensbeschreibungen
der Monarchen, der Vertrautheit mit Hofintriguen, Verschwörungen, Länder¬
raub, Schlachten und Heerführern zu erwarten! Und die Aneignung der
Sprache, nöthigt sie nicht Beziehungen in uns aufzunehmen, welche, an sich
vielleicht einer Naturnothwendigkeit entsprungen, uns doch nur als zufällige
erscheinen, so daß sie zwar das Gedächtniß, nicht aber den Verstand übt?
Ja sie wirkt sogar moralisch schädlich, invem sie Unterordnung unter die
Autorität, dogmatische Befangenheit begünstigt; denn daß so und so die



') S. 66 — 67.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/461>, abgerufen am 29.06.2024.