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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Herbert Spencers Lrziehungslehre.*)

Wir sind seit lange gewohnt, England nicht bloß als das Land politi¬
scher, sondern auch pädagogischer Eibweisheit zu betrachten, und einer unserer
hervorragenden Pädagogen hat uns die englische Erziehung als einen Spie¬
gel zu unsrer Beschämung und zu unsrer Besserung vorgehalten.**) Wir
waren daher sehr erfreut, als wir das vorliegende Buch in die Hand nah¬
men, um aus dem Munde eines der bedeutendsten englischen Philosophen der
Gegenwart die wissenschaftliche Darstellung pädagogischer Grundsätze zu ver¬
nehmen. Wir glaubten um so mehr Gewinn aus derselben ziehen zu können,
als der Uebersetzer, Herr Dr. Fritz Schultze in Jena, im Vorwort unsre Er¬
wartungen sehr hoch gespannt hatte.

Leider haben wir nicht gesunden, was wir gesucht, und unsre An¬
erkennung kann nur eine sehr bedingte sein. Was wir auszusetzen haben,
wollen wir mit einem Referat über den Inhalt der Schrift zu verschmelzen
suchen.

Das erste Kapitel derselben wirst die Frage auf: Welches Wissen hat
den größten Werth? Die Antwort lautet etwas tautologisch: Die Wissen¬
schaft, doch ist sie nicht tautologisch gemeint. Nicht bloß, weil vieles Wissen
nicht das Gepräge der Wissenschaft trägt, weil diesen Namen nur das nach
richtiger Methode erworbene Wissen beanspruchen kann, sondern vielmehr, weil
Spencer den Begriff der Wissenschaft in eigenthümlicher Weise begrenzt.
Was bezeichnet er als ihren Gegenstand? Die Erzeugung, Bearbeitung und
Vertheilung der Mittel zum Leben. Und die Kenntniß der physischen, chemi¬
schen, biologischen Eigenthümlichkeiten der Verbrauchsgegenstände und der
ihrer Natur entsprechenden Methoden, das ist ihm daher die Wissen¬
schaft***). Daraus ergiebt sich die Werthschätzung der einzelnen Discipli¬
nen. In erster Linie steht die Mathematik, sie beherrscht alle industriellen
Thätigkeiten und höheren technischen Gewerbe. Es folgt die Mechanik, von
deren Anwendung der Erfolg unsres Fabrikwesens abhängt, die Physik und
Chemie, deren Entdeckungen sich für die mannichfachsten Beziehungen unsres
gesellschaftlichen Lebens als segensreich erwiesen haben, die Astronomie, aus
der die Schifffahrtskunde erwachsen ist, die Geologie, deren Kenntniß die
materielle Wohlfahrt in hohem Maße fördert. Die Biologie, welche sich der
Erforschung des pflanzlichen und thierischen Lebens zuwendet und die Vor-





") Herbert Spencer's Erziehungslehre. Mit des Verfassers Bewilligung in deutscher Ueber¬
setzung herausgegeben von Fritz Schultze. Jena. Maule's Verlag. (Hermann Dusft) 1874.
S. 246.
-) Wiese. Deutsche Briefe über englische Erziehung. Berlin 18S2.
S. 24.
Herbert Spencers Lrziehungslehre.*)

Wir sind seit lange gewohnt, England nicht bloß als das Land politi¬
scher, sondern auch pädagogischer Eibweisheit zu betrachten, und einer unserer
hervorragenden Pädagogen hat uns die englische Erziehung als einen Spie¬
gel zu unsrer Beschämung und zu unsrer Besserung vorgehalten.**) Wir
waren daher sehr erfreut, als wir das vorliegende Buch in die Hand nah¬
men, um aus dem Munde eines der bedeutendsten englischen Philosophen der
Gegenwart die wissenschaftliche Darstellung pädagogischer Grundsätze zu ver¬
nehmen. Wir glaubten um so mehr Gewinn aus derselben ziehen zu können,
als der Uebersetzer, Herr Dr. Fritz Schultze in Jena, im Vorwort unsre Er¬
wartungen sehr hoch gespannt hatte.

Leider haben wir nicht gesunden, was wir gesucht, und unsre An¬
erkennung kann nur eine sehr bedingte sein. Was wir auszusetzen haben,
wollen wir mit einem Referat über den Inhalt der Schrift zu verschmelzen
suchen.

Das erste Kapitel derselben wirst die Frage auf: Welches Wissen hat
den größten Werth? Die Antwort lautet etwas tautologisch: Die Wissen¬
schaft, doch ist sie nicht tautologisch gemeint. Nicht bloß, weil vieles Wissen
nicht das Gepräge der Wissenschaft trägt, weil diesen Namen nur das nach
richtiger Methode erworbene Wissen beanspruchen kann, sondern vielmehr, weil
Spencer den Begriff der Wissenschaft in eigenthümlicher Weise begrenzt.
Was bezeichnet er als ihren Gegenstand? Die Erzeugung, Bearbeitung und
Vertheilung der Mittel zum Leben. Und die Kenntniß der physischen, chemi¬
schen, biologischen Eigenthümlichkeiten der Verbrauchsgegenstände und der
ihrer Natur entsprechenden Methoden, das ist ihm daher die Wissen¬
schaft***). Daraus ergiebt sich die Werthschätzung der einzelnen Discipli¬
nen. In erster Linie steht die Mathematik, sie beherrscht alle industriellen
Thätigkeiten und höheren technischen Gewerbe. Es folgt die Mechanik, von
deren Anwendung der Erfolg unsres Fabrikwesens abhängt, die Physik und
Chemie, deren Entdeckungen sich für die mannichfachsten Beziehungen unsres
gesellschaftlichen Lebens als segensreich erwiesen haben, die Astronomie, aus
der die Schifffahrtskunde erwachsen ist, die Geologie, deren Kenntniß die
materielle Wohlfahrt in hohem Maße fördert. Die Biologie, welche sich der
Erforschung des pflanzlichen und thierischen Lebens zuwendet und die Vor-





") Herbert Spencer's Erziehungslehre. Mit des Verfassers Bewilligung in deutscher Ueber¬
setzung herausgegeben von Fritz Schultze. Jena. Maule's Verlag. (Hermann Dusft) 1874.
S. 246.
-) Wiese. Deutsche Briefe über englische Erziehung. Berlin 18S2.
S. 24.
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[0460] Herbert Spencers Lrziehungslehre.*) Wir sind seit lange gewohnt, England nicht bloß als das Land politi¬ scher, sondern auch pädagogischer Eibweisheit zu betrachten, und einer unserer hervorragenden Pädagogen hat uns die englische Erziehung als einen Spie¬ gel zu unsrer Beschämung und zu unsrer Besserung vorgehalten.**) Wir waren daher sehr erfreut, als wir das vorliegende Buch in die Hand nah¬ men, um aus dem Munde eines der bedeutendsten englischen Philosophen der Gegenwart die wissenschaftliche Darstellung pädagogischer Grundsätze zu ver¬ nehmen. Wir glaubten um so mehr Gewinn aus derselben ziehen zu können, als der Uebersetzer, Herr Dr. Fritz Schultze in Jena, im Vorwort unsre Er¬ wartungen sehr hoch gespannt hatte. Leider haben wir nicht gesunden, was wir gesucht, und unsre An¬ erkennung kann nur eine sehr bedingte sein. Was wir auszusetzen haben, wollen wir mit einem Referat über den Inhalt der Schrift zu verschmelzen suchen. Das erste Kapitel derselben wirst die Frage auf: Welches Wissen hat den größten Werth? Die Antwort lautet etwas tautologisch: Die Wissen¬ schaft, doch ist sie nicht tautologisch gemeint. Nicht bloß, weil vieles Wissen nicht das Gepräge der Wissenschaft trägt, weil diesen Namen nur das nach richtiger Methode erworbene Wissen beanspruchen kann, sondern vielmehr, weil Spencer den Begriff der Wissenschaft in eigenthümlicher Weise begrenzt. Was bezeichnet er als ihren Gegenstand? Die Erzeugung, Bearbeitung und Vertheilung der Mittel zum Leben. Und die Kenntniß der physischen, chemi¬ schen, biologischen Eigenthümlichkeiten der Verbrauchsgegenstände und der ihrer Natur entsprechenden Methoden, das ist ihm daher die Wissen¬ schaft***). Daraus ergiebt sich die Werthschätzung der einzelnen Discipli¬ nen. In erster Linie steht die Mathematik, sie beherrscht alle industriellen Thätigkeiten und höheren technischen Gewerbe. Es folgt die Mechanik, von deren Anwendung der Erfolg unsres Fabrikwesens abhängt, die Physik und Chemie, deren Entdeckungen sich für die mannichfachsten Beziehungen unsres gesellschaftlichen Lebens als segensreich erwiesen haben, die Astronomie, aus der die Schifffahrtskunde erwachsen ist, die Geologie, deren Kenntniß die materielle Wohlfahrt in hohem Maße fördert. Die Biologie, welche sich der Erforschung des pflanzlichen und thierischen Lebens zuwendet und die Vor- ") Herbert Spencer's Erziehungslehre. Mit des Verfassers Bewilligung in deutscher Ueber¬ setzung herausgegeben von Fritz Schultze. Jena. Maule's Verlag. (Hermann Dusft) 1874. S. 246. -) Wiese. Deutsche Briefe über englische Erziehung. Berlin 18S2. S. 24.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/460>, abgerufen am 28.09.2024.