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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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stadt auszuweisen; ob sie sich aber solcher Lichtseiten rühmen darf, wie die
Berliner, bleibt doch die Frage.--

Gleich der Politik ist auch die Kunst vor dem Sommer geflohen. Die
königlichen Theater feiern ganz und die übrigen Bühnen müssen zu allerlei
außergewöhnlichen Hülfsmitteln greifen, um sich den Athem nicht ausgehen
zu lassen. In der Friedrich-Wilhelmstadt hat die burleske Operette durch das
Gastspiel der Wiener Soubrette Frl. Geistinger eine Zugkraft erhalten, die
auch den stärksten Leistungen der Temperatur das Gegenspiel hält. Man
streitet sich, ob der eigenthümliche Zauber dieser "ewig jungen" Künstlerin
mehr in der "Verve," oder in der "Decenz" ihres Spieles liege. Alle aber
sind einig darin, sie als die vollendetste Jnterpretin der Offenbach'schen Muse
zu feiern, und damit sa-Muti hö,t! -- Bei Wallner hat man nach verschiedenen
mehr oder weniger verunglückten Novitäten die alte Salingre'sche Posse:
"Pechschulze," wieder hervorgesucht und die unbeschreibliche Meisterleistung
Helmerdings, sowie das äußerst frische Ensemblespiel ist allerdings geeignet,
für die zahlreichen Schweißtropfen, mit denen der Genuß erkämpft-werden
muß, hinlänglich zu entschädigen.

Auf der Kroll'schen Bühne pflegt man, wie stets im Sommer, die Oper;
die Schatten Rossini's und Flotow's werden indeß verzeihen, wenn so mancher
Sterbliche, statt in die heiligen Hallen einzutreten, es vorzieht, sich im Licht¬
meer des berühmten Gartens bei den herberen Weisen der Janitscharenmusik
der Abendkühle zu erfreuen. -- Das klassische Drama hat in diesem Augen¬
blick nur noch im Nationaltheater ein Asyl, auch dort freilich im gefährlichen
Wettkampf mit der Posse. Wir wollen hoffen, daß die Reception der letzteren
nur ein sommerlicher Nothbehelf ist. Bisher war es der Ruhm dieser kleinen
Bühne, der Ueberfluthung mit dem französischen Sitten- und Sensations¬
drama einerseits und mit witz - und sittenlosen Possenthum andererseits in
der rührigen Pflege unserer klassischen Muse einen Damm entgegengestellt zu
haben. Auch jetzt, beim Jubiläum der Schlacht von Fehrbellin, war das
Nationaltheater die einzige unserer Bühnen, die den Tag in würdiger Weise
mit der Aufführung von Kleist's: "Prinz von Homburg" gefeiert hat. Daß
dies Stück, obgleich es zu einer der besten Leistungen unserer Hofbühne zählt,
den entschiedensten Erfolg gehabt hat, wird dem Leiter des Nationaltheaters
hoffentlich eine kräftige Ermunterung gewesen sein, sein Unternehmen auch
ferner dem bisher verfolgten hohen Ziele zu erhalten. Welche Anziehungs¬
kraft die klassische Dichtung aus unser Publikum ausübt, hat wieder das dies¬
jährige Gastspiel der Meininger bewiesen. Ihrem vorjährigen Lorbeerkranz
haben dieselben diesmal mit der Aufführung des "Fiesco" ein herrliches Blatt
hinzugefügt. Will man aber etwa einwenden, daß auch hier nur die überaus
glänzende äußere Ausstattung die Menge angezogen habe, so erwidern wir


stadt auszuweisen; ob sie sich aber solcher Lichtseiten rühmen darf, wie die
Berliner, bleibt doch die Frage.--

Gleich der Politik ist auch die Kunst vor dem Sommer geflohen. Die
königlichen Theater feiern ganz und die übrigen Bühnen müssen zu allerlei
außergewöhnlichen Hülfsmitteln greifen, um sich den Athem nicht ausgehen
zu lassen. In der Friedrich-Wilhelmstadt hat die burleske Operette durch das
Gastspiel der Wiener Soubrette Frl. Geistinger eine Zugkraft erhalten, die
auch den stärksten Leistungen der Temperatur das Gegenspiel hält. Man
streitet sich, ob der eigenthümliche Zauber dieser „ewig jungen" Künstlerin
mehr in der „Verve," oder in der „Decenz" ihres Spieles liege. Alle aber
sind einig darin, sie als die vollendetste Jnterpretin der Offenbach'schen Muse
zu feiern, und damit sa-Muti hö,t! — Bei Wallner hat man nach verschiedenen
mehr oder weniger verunglückten Novitäten die alte Salingre'sche Posse:
„Pechschulze," wieder hervorgesucht und die unbeschreibliche Meisterleistung
Helmerdings, sowie das äußerst frische Ensemblespiel ist allerdings geeignet,
für die zahlreichen Schweißtropfen, mit denen der Genuß erkämpft-werden
muß, hinlänglich zu entschädigen.

Auf der Kroll'schen Bühne pflegt man, wie stets im Sommer, die Oper;
die Schatten Rossini's und Flotow's werden indeß verzeihen, wenn so mancher
Sterbliche, statt in die heiligen Hallen einzutreten, es vorzieht, sich im Licht¬
meer des berühmten Gartens bei den herberen Weisen der Janitscharenmusik
der Abendkühle zu erfreuen. — Das klassische Drama hat in diesem Augen¬
blick nur noch im Nationaltheater ein Asyl, auch dort freilich im gefährlichen
Wettkampf mit der Posse. Wir wollen hoffen, daß die Reception der letzteren
nur ein sommerlicher Nothbehelf ist. Bisher war es der Ruhm dieser kleinen
Bühne, der Ueberfluthung mit dem französischen Sitten- und Sensations¬
drama einerseits und mit witz - und sittenlosen Possenthum andererseits in
der rührigen Pflege unserer klassischen Muse einen Damm entgegengestellt zu
haben. Auch jetzt, beim Jubiläum der Schlacht von Fehrbellin, war das
Nationaltheater die einzige unserer Bühnen, die den Tag in würdiger Weise
mit der Aufführung von Kleist's: „Prinz von Homburg" gefeiert hat. Daß
dies Stück, obgleich es zu einer der besten Leistungen unserer Hofbühne zählt,
den entschiedensten Erfolg gehabt hat, wird dem Leiter des Nationaltheaters
hoffentlich eine kräftige Ermunterung gewesen sein, sein Unternehmen auch
ferner dem bisher verfolgten hohen Ziele zu erhalten. Welche Anziehungs¬
kraft die klassische Dichtung aus unser Publikum ausübt, hat wieder das dies¬
jährige Gastspiel der Meininger bewiesen. Ihrem vorjährigen Lorbeerkranz
haben dieselben diesmal mit der Aufführung des „Fiesco" ein herrliches Blatt
hinzugefügt. Will man aber etwa einwenden, daß auch hier nur die überaus
glänzende äußere Ausstattung die Menge angezogen habe, so erwidern wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/46>, abgerufen am 26.06.2024.