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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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sowohl dem Andenken des verstorbenen Kapitain Thomas, als auch den
Eigenthümern der Adlerlinie gerecht zu werden, seine Meinung dahin auszu¬
sprechen, daß jeder denselben gemachte Vorwurf, sie hätten gewöhnlich Kanonen¬
schüsse abfeuern, oder Nothsignale als Ankunftssignale brauchen lassen, gänzlich
unbegründet ist." -- Der englische Gerichtshof sagt also: Die gänzliche Ver¬
nachlässigung aller Vorsichtsmaßregeln (von Seiten der Schiffsführung) sei
die einzige Ursache der schrecklichen Catastrophe. Ob dieser Urtheilsspruch
gerecht und unparteiisch ist, beweisen uns die bereits oben angezogenen
stenographischen Gerichtsverhandlungen und Zeugenvernehmungen. Daß er
mit den letzteren vereinbar sei, erlaube ich mir zu bezweifeln.

Gewiß trägt Capitain Thomas einen großen Theil der Schuld an dem
Tode der vielen Menschen. Aber denken wir uns in seine Lage, hören wir
was Seeleute thun würden unter denselben Verhältnissen; die Lootsen Hicks
und Deason sagten unter Eidespfltcht aus: sie wären bis 9^° Abends den¬
selben Cours gefahren wie Capitain Thomas, hätten dann eine "Tiefenmessung
gemacht und wären dann nach S. S. O. gefahren!" Diese Coursänderung
wäre mindestens ebenso gefährlich gewesen, als die nach S. S. W., welche der
Schiller einschlug.

Nach dreitägigen Nebel vermuthet sich Capitain Thomas Mittags um
12 Uhr 162 Seemeilen westlich vom Leuchtthurm von Bishop Rock und fast
in der Breite dieses Feuers. Er steuert S. 87<>O. mit 14 Meilen pro
Stunde. Dieser Kurs mit solcher Geschwindigkeit hätte den Schiller Nachts
um 10 Uhr SS Minuten auf gleiche Höhe mit dem Leuchtthurm, aber 8 See¬
meilen südlich geführt. Abends um 9.30, sagt der Capitän, er vermuthe sich
25 Seemeilen von besagtem Leuchtthurmfeuer und um den Gefahren, die hinter
demselben für sein Schiff liegen, auszuweichen, lenkt er dasselbe, wie er glaubte
noch 2S Meilen entfernt von demselben, nach dem Ocean zurück, in S. S.
Westlichen Curs ab. Er war aber statt 23 Meilen westlich des Feuers,
schon 2 Meilen östlich desselben. Wie ist es nun erklärlich, daß ein so er¬
fahrener Seemann wie Thomas sich um diese verhängnißvollen 27 Meilen
geirrt hatte? War es nur Leichtsinn? war es nur rücksichtsloses Vertrauen
auf seine bisherigen Erfahrungen? Der Lootse Hicks sagt: Bei anhalten¬
dem Südwestwind herrsche eine starke nach Norden treibende Strömung vor,
welche auch bei größter Vorsicht, das Schiff nicht nur nach Norden, weiter
als berechnet treibe, sondern dessen Geschwindigkeit unbemerkt nach dem
Lande zu vermehren könne! Hat der Gerichtshof diesen Zeugenaussagen,
den einzigen von unparteiischen Seeleuten, also Fachmännern gegebenen,
die gebührende oder überhaupt irgend welche Beachtung geschenkt? -- Ich
zweifle daran! -- Daß übrigens eine solche unmerkliche Verschiebung des
Schiffscourses nach Norden und gegen Land möglich ist, trotz aller Vorsichts-


sowohl dem Andenken des verstorbenen Kapitain Thomas, als auch den
Eigenthümern der Adlerlinie gerecht zu werden, seine Meinung dahin auszu¬
sprechen, daß jeder denselben gemachte Vorwurf, sie hätten gewöhnlich Kanonen¬
schüsse abfeuern, oder Nothsignale als Ankunftssignale brauchen lassen, gänzlich
unbegründet ist." — Der englische Gerichtshof sagt also: Die gänzliche Ver¬
nachlässigung aller Vorsichtsmaßregeln (von Seiten der Schiffsführung) sei
die einzige Ursache der schrecklichen Catastrophe. Ob dieser Urtheilsspruch
gerecht und unparteiisch ist, beweisen uns die bereits oben angezogenen
stenographischen Gerichtsverhandlungen und Zeugenvernehmungen. Daß er
mit den letzteren vereinbar sei, erlaube ich mir zu bezweifeln.

Gewiß trägt Capitain Thomas einen großen Theil der Schuld an dem
Tode der vielen Menschen. Aber denken wir uns in seine Lage, hören wir
was Seeleute thun würden unter denselben Verhältnissen; die Lootsen Hicks
und Deason sagten unter Eidespfltcht aus: sie wären bis 9^° Abends den¬
selben Cours gefahren wie Capitain Thomas, hätten dann eine „Tiefenmessung
gemacht und wären dann nach S. S. O. gefahren!" Diese Coursänderung
wäre mindestens ebenso gefährlich gewesen, als die nach S. S. W., welche der
Schiller einschlug.

Nach dreitägigen Nebel vermuthet sich Capitain Thomas Mittags um
12 Uhr 162 Seemeilen westlich vom Leuchtthurm von Bishop Rock und fast
in der Breite dieses Feuers. Er steuert S. 87<>O. mit 14 Meilen pro
Stunde. Dieser Kurs mit solcher Geschwindigkeit hätte den Schiller Nachts
um 10 Uhr SS Minuten auf gleiche Höhe mit dem Leuchtthurm, aber 8 See¬
meilen südlich geführt. Abends um 9.30, sagt der Capitän, er vermuthe sich
25 Seemeilen von besagtem Leuchtthurmfeuer und um den Gefahren, die hinter
demselben für sein Schiff liegen, auszuweichen, lenkt er dasselbe, wie er glaubte
noch 2S Meilen entfernt von demselben, nach dem Ocean zurück, in S. S.
Westlichen Curs ab. Er war aber statt 23 Meilen westlich des Feuers,
schon 2 Meilen östlich desselben. Wie ist es nun erklärlich, daß ein so er¬
fahrener Seemann wie Thomas sich um diese verhängnißvollen 27 Meilen
geirrt hatte? War es nur Leichtsinn? war es nur rücksichtsloses Vertrauen
auf seine bisherigen Erfahrungen? Der Lootse Hicks sagt: Bei anhalten¬
dem Südwestwind herrsche eine starke nach Norden treibende Strömung vor,
welche auch bei größter Vorsicht, das Schiff nicht nur nach Norden, weiter
als berechnet treibe, sondern dessen Geschwindigkeit unbemerkt nach dem
Lande zu vermehren könne! Hat der Gerichtshof diesen Zeugenaussagen,
den einzigen von unparteiischen Seeleuten, also Fachmännern gegebenen,
die gebührende oder überhaupt irgend welche Beachtung geschenkt? — Ich
zweifle daran! — Daß übrigens eine solche unmerkliche Verschiebung des
Schiffscourses nach Norden und gegen Land möglich ist, trotz aller Vorsichts-


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[0438] sowohl dem Andenken des verstorbenen Kapitain Thomas, als auch den Eigenthümern der Adlerlinie gerecht zu werden, seine Meinung dahin auszu¬ sprechen, daß jeder denselben gemachte Vorwurf, sie hätten gewöhnlich Kanonen¬ schüsse abfeuern, oder Nothsignale als Ankunftssignale brauchen lassen, gänzlich unbegründet ist." — Der englische Gerichtshof sagt also: Die gänzliche Ver¬ nachlässigung aller Vorsichtsmaßregeln (von Seiten der Schiffsführung) sei die einzige Ursache der schrecklichen Catastrophe. Ob dieser Urtheilsspruch gerecht und unparteiisch ist, beweisen uns die bereits oben angezogenen stenographischen Gerichtsverhandlungen und Zeugenvernehmungen. Daß er mit den letzteren vereinbar sei, erlaube ich mir zu bezweifeln. Gewiß trägt Capitain Thomas einen großen Theil der Schuld an dem Tode der vielen Menschen. Aber denken wir uns in seine Lage, hören wir was Seeleute thun würden unter denselben Verhältnissen; die Lootsen Hicks und Deason sagten unter Eidespfltcht aus: sie wären bis 9^° Abends den¬ selben Cours gefahren wie Capitain Thomas, hätten dann eine „Tiefenmessung gemacht und wären dann nach S. S. O. gefahren!" Diese Coursänderung wäre mindestens ebenso gefährlich gewesen, als die nach S. S. W., welche der Schiller einschlug. Nach dreitägigen Nebel vermuthet sich Capitain Thomas Mittags um 12 Uhr 162 Seemeilen westlich vom Leuchtthurm von Bishop Rock und fast in der Breite dieses Feuers. Er steuert S. 87<>O. mit 14 Meilen pro Stunde. Dieser Kurs mit solcher Geschwindigkeit hätte den Schiller Nachts um 10 Uhr SS Minuten auf gleiche Höhe mit dem Leuchtthurm, aber 8 See¬ meilen südlich geführt. Abends um 9.30, sagt der Capitän, er vermuthe sich 25 Seemeilen von besagtem Leuchtthurmfeuer und um den Gefahren, die hinter demselben für sein Schiff liegen, auszuweichen, lenkt er dasselbe, wie er glaubte noch 2S Meilen entfernt von demselben, nach dem Ocean zurück, in S. S. Westlichen Curs ab. Er war aber statt 23 Meilen westlich des Feuers, schon 2 Meilen östlich desselben. Wie ist es nun erklärlich, daß ein so er¬ fahrener Seemann wie Thomas sich um diese verhängnißvollen 27 Meilen geirrt hatte? War es nur Leichtsinn? war es nur rücksichtsloses Vertrauen auf seine bisherigen Erfahrungen? Der Lootse Hicks sagt: Bei anhalten¬ dem Südwestwind herrsche eine starke nach Norden treibende Strömung vor, welche auch bei größter Vorsicht, das Schiff nicht nur nach Norden, weiter als berechnet treibe, sondern dessen Geschwindigkeit unbemerkt nach dem Lande zu vermehren könne! Hat der Gerichtshof diesen Zeugenaussagen, den einzigen von unparteiischen Seeleuten, also Fachmännern gegebenen, die gebührende oder überhaupt irgend welche Beachtung geschenkt? — Ich zweifle daran! — Daß übrigens eine solche unmerkliche Verschiebung des Schiffscourses nach Norden und gegen Land möglich ist, trotz aller Vorsichts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/438>, abgerufen am 26.06.2024.