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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Genien der Künste, der Wissenschaft, der Industrie, des Ackerbaues. Ein
Genius legt eine Fackel an einen ungeheuren Pfeiler, auf welchem das Wort
"?rontiörc;s" geschrieben steht. Eine ähnliche Idee spricht sich in dem sonst
mehr genreartig gehaltenen reizenden Bildern eduir ü. carion aus. Eine
Gruppe blühender Kinder spielt am Fuße eines zerstörten Festungswalles
neben einer verlassenen Kanone. Einer der kleinen Knaben stellt den Ge¬
fangenen vor, ein anderer bewacht ihn mit komischem Ernst, ein dritter er¬
theilt ihm einige Schläge. Ein kleines Mädchen hat das Köpfchen an die
Kanone gelehnt und weint aus Mitgefühl bitterlich über das Schicksal des
Gefangenen. Eine rührende Anmuth ist über die Scene ausgebreitet, und jede
Figur spricht zum Beschauer: "es liegt ein tiefer Sinn im kind'schen Spiel."
Kurz vor seinem Tode im Jahre 186S vollendete er zwei Gemälde, welche in
diesen Kreis gehören, und die unwillkürlich die Aufmerksamkeit des Beschauers
auf sich ziehen, weniger wegen ihrer formellen Schönheit, als wegen der darin
sich aussprechenden, erst jetzt recht zeitgemäßen Idee. Ich meine die beiden
Pendants "I^es ?"reich ^ug"5s Mi- 1s dkrist" und ^I^eZ Mrtios Solon 1<z
tüdrist," Es ist, als seien diese Bilder gleichsam aus einer Vorahnung der
Kämpfe hervorgewachsen, welche gegenwärtig die civilisirte Welt bewegen.
Auf dem ersteren sehen wir einen Papst im Schmuck der dreifachen Krone,
einen Krieger mit der Krone und dem blutigen Schwert und einen Mann
aus dem Volk mit entblößtem Oberkörper, welcher die Nägel der einen Hand
dem Priester krampfhaft in das Antlitz gekrallt hat, während er mit der
andern dem Krieger die Krone vom Haupt zu reißen sucht. Dieser zuckt
drohend das Schwert auf ihn, während der Papst ihm ein Kruzifix entgegen¬
schleudert; um diese Kampfscene voll dramatischen Lebens züngeln gierige
Flammen. Im Vordergrunde steht Christus, das Auge in Thränen mit
abgewandtem Gesicht und abwehrender Geberde. Das zweite Gemälde stellt
die Versöhnung der drei Parteien dar, welche von Christus gesegnet werden.
Der Mann des Volkes, eine vollkräftige Gestalt, hält eine zerbrochene Kette
freudig empor und umschlingt in begeisterter Freude die beiden Vertreter der
politischen und kirchlichen Macht, den Kaiser und den Papst. Daneben gehen
die Attribute der streitenden Parteien, das Kreuz, das Schwert und die
phrygische Mütze in Flammen auf. Das ist der Schwanengesang des puintre-
xoöte, wie man Wiertz mit Recht genannt hat. Solche und ähnliche Ideen
finden sich in einer Reihe höchst bemerkenswerther Schöpfungen des Künstlers
vollendet schön dargestellt und doch hatte er darin nur den kleinsten Theil
seiner genialen Entwürfe verwirklichen können. Eine Welt von künstlerischen
Conceptionen ging mit ihm unter. Auch auf dem Gebiet der Bildhauer¬
kunst hat der rastlos arbeitende Wiertz nicht Unbedeutendes geleistet. Kurz
vor seinem Tode modellirte er noch drei Gruppen, welche die Geschichte der


Genien der Künste, der Wissenschaft, der Industrie, des Ackerbaues. Ein
Genius legt eine Fackel an einen ungeheuren Pfeiler, auf welchem das Wort
„?rontiörc;s" geschrieben steht. Eine ähnliche Idee spricht sich in dem sonst
mehr genreartig gehaltenen reizenden Bildern eduir ü. carion aus. Eine
Gruppe blühender Kinder spielt am Fuße eines zerstörten Festungswalles
neben einer verlassenen Kanone. Einer der kleinen Knaben stellt den Ge¬
fangenen vor, ein anderer bewacht ihn mit komischem Ernst, ein dritter er¬
theilt ihm einige Schläge. Ein kleines Mädchen hat das Köpfchen an die
Kanone gelehnt und weint aus Mitgefühl bitterlich über das Schicksal des
Gefangenen. Eine rührende Anmuth ist über die Scene ausgebreitet, und jede
Figur spricht zum Beschauer: „es liegt ein tiefer Sinn im kind'schen Spiel."
Kurz vor seinem Tode im Jahre 186S vollendete er zwei Gemälde, welche in
diesen Kreis gehören, und die unwillkürlich die Aufmerksamkeit des Beschauers
auf sich ziehen, weniger wegen ihrer formellen Schönheit, als wegen der darin
sich aussprechenden, erst jetzt recht zeitgemäßen Idee. Ich meine die beiden
Pendants „I^es ?»reich ^ug«5s Mi- 1s dkrist" und ^I^eZ Mrtios Solon 1<z
tüdrist," Es ist, als seien diese Bilder gleichsam aus einer Vorahnung der
Kämpfe hervorgewachsen, welche gegenwärtig die civilisirte Welt bewegen.
Auf dem ersteren sehen wir einen Papst im Schmuck der dreifachen Krone,
einen Krieger mit der Krone und dem blutigen Schwert und einen Mann
aus dem Volk mit entblößtem Oberkörper, welcher die Nägel der einen Hand
dem Priester krampfhaft in das Antlitz gekrallt hat, während er mit der
andern dem Krieger die Krone vom Haupt zu reißen sucht. Dieser zuckt
drohend das Schwert auf ihn, während der Papst ihm ein Kruzifix entgegen¬
schleudert; um diese Kampfscene voll dramatischen Lebens züngeln gierige
Flammen. Im Vordergrunde steht Christus, das Auge in Thränen mit
abgewandtem Gesicht und abwehrender Geberde. Das zweite Gemälde stellt
die Versöhnung der drei Parteien dar, welche von Christus gesegnet werden.
Der Mann des Volkes, eine vollkräftige Gestalt, hält eine zerbrochene Kette
freudig empor und umschlingt in begeisterter Freude die beiden Vertreter der
politischen und kirchlichen Macht, den Kaiser und den Papst. Daneben gehen
die Attribute der streitenden Parteien, das Kreuz, das Schwert und die
phrygische Mütze in Flammen auf. Das ist der Schwanengesang des puintre-
xoöte, wie man Wiertz mit Recht genannt hat. Solche und ähnliche Ideen
finden sich in einer Reihe höchst bemerkenswerther Schöpfungen des Künstlers
vollendet schön dargestellt und doch hatte er darin nur den kleinsten Theil
seiner genialen Entwürfe verwirklichen können. Eine Welt von künstlerischen
Conceptionen ging mit ihm unter. Auch auf dem Gebiet der Bildhauer¬
kunst hat der rastlos arbeitende Wiertz nicht Unbedeutendes geleistet. Kurz
vor seinem Tode modellirte er noch drei Gruppen, welche die Geschichte der


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[0429] Genien der Künste, der Wissenschaft, der Industrie, des Ackerbaues. Ein Genius legt eine Fackel an einen ungeheuren Pfeiler, auf welchem das Wort „?rontiörc;s" geschrieben steht. Eine ähnliche Idee spricht sich in dem sonst mehr genreartig gehaltenen reizenden Bildern eduir ü. carion aus. Eine Gruppe blühender Kinder spielt am Fuße eines zerstörten Festungswalles neben einer verlassenen Kanone. Einer der kleinen Knaben stellt den Ge¬ fangenen vor, ein anderer bewacht ihn mit komischem Ernst, ein dritter er¬ theilt ihm einige Schläge. Ein kleines Mädchen hat das Köpfchen an die Kanone gelehnt und weint aus Mitgefühl bitterlich über das Schicksal des Gefangenen. Eine rührende Anmuth ist über die Scene ausgebreitet, und jede Figur spricht zum Beschauer: „es liegt ein tiefer Sinn im kind'schen Spiel." Kurz vor seinem Tode im Jahre 186S vollendete er zwei Gemälde, welche in diesen Kreis gehören, und die unwillkürlich die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich ziehen, weniger wegen ihrer formellen Schönheit, als wegen der darin sich aussprechenden, erst jetzt recht zeitgemäßen Idee. Ich meine die beiden Pendants „I^es ?»reich ^ug«5s Mi- 1s dkrist" und ^I^eZ Mrtios Solon 1<z tüdrist," Es ist, als seien diese Bilder gleichsam aus einer Vorahnung der Kämpfe hervorgewachsen, welche gegenwärtig die civilisirte Welt bewegen. Auf dem ersteren sehen wir einen Papst im Schmuck der dreifachen Krone, einen Krieger mit der Krone und dem blutigen Schwert und einen Mann aus dem Volk mit entblößtem Oberkörper, welcher die Nägel der einen Hand dem Priester krampfhaft in das Antlitz gekrallt hat, während er mit der andern dem Krieger die Krone vom Haupt zu reißen sucht. Dieser zuckt drohend das Schwert auf ihn, während der Papst ihm ein Kruzifix entgegen¬ schleudert; um diese Kampfscene voll dramatischen Lebens züngeln gierige Flammen. Im Vordergrunde steht Christus, das Auge in Thränen mit abgewandtem Gesicht und abwehrender Geberde. Das zweite Gemälde stellt die Versöhnung der drei Parteien dar, welche von Christus gesegnet werden. Der Mann des Volkes, eine vollkräftige Gestalt, hält eine zerbrochene Kette freudig empor und umschlingt in begeisterter Freude die beiden Vertreter der politischen und kirchlichen Macht, den Kaiser und den Papst. Daneben gehen die Attribute der streitenden Parteien, das Kreuz, das Schwert und die phrygische Mütze in Flammen auf. Das ist der Schwanengesang des puintre- xoöte, wie man Wiertz mit Recht genannt hat. Solche und ähnliche Ideen finden sich in einer Reihe höchst bemerkenswerther Schöpfungen des Künstlers vollendet schön dargestellt und doch hatte er darin nur den kleinsten Theil seiner genialen Entwürfe verwirklichen können. Eine Welt von künstlerischen Conceptionen ging mit ihm unter. Auch auf dem Gebiet der Bildhauer¬ kunst hat der rastlos arbeitende Wiertz nicht Unbedeutendes geleistet. Kurz vor seinem Tode modellirte er noch drei Gruppen, welche die Geschichte der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/429>, abgerufen am 26.06.2024.