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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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graben zu dürfen, was ihnen gewährt wurde, doch sollte ihnen der Leichnam
Sogoros erst ausgeliefert werden, nachdem er drei Tage ausgestellt worden.
Um die Zeit der Schlange, d. h. 10 Uhr Morgens, strömte das Volk aus
der Nachbarschaft herbei, um die Hinrichtung mit anzusehen, dem Sogoro
und den Seinen Lebewohl zu sagen und für sie zu beten. Die Beurtheilten
wurden gebunden herbeigeführt und mußten sich auf grobe Matten setzen.
Sogoro und seine Frau schlössen die Augen; denn der Anblick war mehr,
als sie ertragen konnten. Die Zuschauer aber riefen schluchzend und unter
strömenden Thränen: "O, grausam! O, unbarmherzig!" Sie nahmen dabei
Süßigkeiten aus ihren Brusttaschen und warfen sie den Kindern zu. Um die
Mittagsstunde wurden Sogoro und seine Frau Amar auf die Kreuze gebunden
und diese dann aufgerichtet. Nachdem dieß geschehen, wurde der dreizehn¬
jährige älteste Sohn, Gennosuke, vor die beiden Eltern geführt. Da schrie
Sogoro laut: "O, grausam, grausam! Was hat dieses arme Kind begangen,
daß man es so behandelt? Was aus mir wird, ist mir ja gleichgültig/'
Und heiße Thränen flössen von seinem Angesicht nieder.

Die Zuschauer beteten laut und schlössen die Augen, selbst der Scharf¬
richter, der hinter dem Knaben stand, sagte, es sei unmenschlich, das Kind
wegen der Schuld des Vaters leiden zu lassen, und betete still. Der Knabe
Gennosuke aber sprach zu seinen Eltern: "O mein Vater und meine Mutter,
ich gehe Euch voran in das Paradies, um Euch dort zu erwarten. Meine
kleinen Brüder werden mit mir am Ufer des Flusses Sandsu (des buddhistischen
Styr) stehen und euch die Hände entgegenstrecken, um euch hinüberzuhelfen.
Lebet wohl, alle, die Ihr gekommen seid, uns sterben zu sehen, und nun, bitte,
schlagt mir schnell den Kopf ab." Damit bot er seinen Hals dar. indem er
sein letztes Gebet flüsterte. So erschüttert und in innerster Seele gerührt,
wie er war. mußte der Scharfrichter kraft seines Amts dem Kinde den Kopf
abschlagen, und eine herzzerreißende Wehklage erhob sich aus dem Munde
der Eltern und Zuschauer. Darauf sagte das jüngere Kind Sokei, zehn
Jahre alt, zum Scharfrichter: "Herr, ich habe an meiner rechten Schulter ein
Geschwür, bitte, schlag' mir den Kopf von der linken Seite her ab, damit du
mir nicht wehthust. Ach, ich weiß nicht, wie man sterben muß, und was ich
thun soll!" Als der Henker und die Beamten neben ihm des Kindes arglose
Rede hörten, weinten sie, aber helfen konnten sie nicht, und der Kopf siel
schneller nieder, als Wasser vom Sande eingesogen wird. Dann wurde der
kleine Kihatschi, der dritte Sohn, erst sieben Jahre alt, hingeschlachtet, während
er in seiner Einfalt-noch von den Süßigkeiten aß, welche die Zuschauer ihm
zugeworfen hatten.

Nachdem die Kinder hingerichtet waren, nahmen die Priester ihre Körper,
legten sie in ihre Särge, trugen sie unter dem Wehklagen der Umstehenden


graben zu dürfen, was ihnen gewährt wurde, doch sollte ihnen der Leichnam
Sogoros erst ausgeliefert werden, nachdem er drei Tage ausgestellt worden.
Um die Zeit der Schlange, d. h. 10 Uhr Morgens, strömte das Volk aus
der Nachbarschaft herbei, um die Hinrichtung mit anzusehen, dem Sogoro
und den Seinen Lebewohl zu sagen und für sie zu beten. Die Beurtheilten
wurden gebunden herbeigeführt und mußten sich auf grobe Matten setzen.
Sogoro und seine Frau schlössen die Augen; denn der Anblick war mehr,
als sie ertragen konnten. Die Zuschauer aber riefen schluchzend und unter
strömenden Thränen: „O, grausam! O, unbarmherzig!" Sie nahmen dabei
Süßigkeiten aus ihren Brusttaschen und warfen sie den Kindern zu. Um die
Mittagsstunde wurden Sogoro und seine Frau Amar auf die Kreuze gebunden
und diese dann aufgerichtet. Nachdem dieß geschehen, wurde der dreizehn¬
jährige älteste Sohn, Gennosuke, vor die beiden Eltern geführt. Da schrie
Sogoro laut: „O, grausam, grausam! Was hat dieses arme Kind begangen,
daß man es so behandelt? Was aus mir wird, ist mir ja gleichgültig/'
Und heiße Thränen flössen von seinem Angesicht nieder.

Die Zuschauer beteten laut und schlössen die Augen, selbst der Scharf¬
richter, der hinter dem Knaben stand, sagte, es sei unmenschlich, das Kind
wegen der Schuld des Vaters leiden zu lassen, und betete still. Der Knabe
Gennosuke aber sprach zu seinen Eltern: „O mein Vater und meine Mutter,
ich gehe Euch voran in das Paradies, um Euch dort zu erwarten. Meine
kleinen Brüder werden mit mir am Ufer des Flusses Sandsu (des buddhistischen
Styr) stehen und euch die Hände entgegenstrecken, um euch hinüberzuhelfen.
Lebet wohl, alle, die Ihr gekommen seid, uns sterben zu sehen, und nun, bitte,
schlagt mir schnell den Kopf ab." Damit bot er seinen Hals dar. indem er
sein letztes Gebet flüsterte. So erschüttert und in innerster Seele gerührt,
wie er war. mußte der Scharfrichter kraft seines Amts dem Kinde den Kopf
abschlagen, und eine herzzerreißende Wehklage erhob sich aus dem Munde
der Eltern und Zuschauer. Darauf sagte das jüngere Kind Sokei, zehn
Jahre alt, zum Scharfrichter: „Herr, ich habe an meiner rechten Schulter ein
Geschwür, bitte, schlag' mir den Kopf von der linken Seite her ab, damit du
mir nicht wehthust. Ach, ich weiß nicht, wie man sterben muß, und was ich
thun soll!" Als der Henker und die Beamten neben ihm des Kindes arglose
Rede hörten, weinten sie, aber helfen konnten sie nicht, und der Kopf siel
schneller nieder, als Wasser vom Sande eingesogen wird. Dann wurde der
kleine Kihatschi, der dritte Sohn, erst sieben Jahre alt, hingeschlachtet, während
er in seiner Einfalt-noch von den Süßigkeiten aß, welche die Zuschauer ihm
zugeworfen hatten.

Nachdem die Kinder hingerichtet waren, nahmen die Priester ihre Körper,
legten sie in ihre Särge, trugen sie unter dem Wehklagen der Umstehenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/420>, abgerufen am 26.06.2024.