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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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bittern", "Charakterköpfen" und "Studienköpfen" greift, als nach einer syste¬
matischen Darstellung. An der Wissenschaft liegt das auf keinen Fall. Daß,
wie der Prospect des vorliegenden Werkes sagt, "die volle Einsicht in das
Wesen und die Bedeutung eines Kunstwerkes in vielen Fällen erst durch die
Kenntniß von den individuellen Eigenthümlichkeiten des Meisters, von den
äußeren und inneren Bedingungen, unter denen sein Genius sich entwickelte,
vermittelt wird", das gilt doch wohl von den hervorragenden Geistern im
Staate, in der Wissenschaft, in der Poesie nicht minder als von denen in den
Künsten. Der wahre Grund scheint der zu sein, daß den letzteren gegenüber
das größere Publikum allerdings stets auf einer so zu sagen jugendlicheren
Stufe gestanden und deßhalb zu dieser saßbareren, eingänglicheren Darstellungs¬
form , die die Persönlichkeit in den Vordergrund rückt, sich mehr hingezogen
gefühlt hat. Man denke, welche Verbreitung in früheren Jahrhunderten
G. Vasart's Vitv de' Mtvri (zuerst erschienen 1550 in Florenz), I. v. San-
drart's Teutsche Academie (Nürnberg 1676 f.), A. Houbraken's Groote Schou-
bourgh (Amsterdam 1718 f.) gehabt haben! Aber auch für unsre Zeit wird
ein "moderner Vasari" noch immer einen hohen Reiz vor jedem kunstgeschicht¬
lichen Handbuche voraushaben.

Ob gerade der gegenwärtige Zeitpunkt geeignet sei, mit einem Werke
wie das vorliegende hervorzutreten, ob er vielleicht für die Wissenschaft selbst noch
etwas verfrüht sei, ist eine müßige Frage. Den gesicherten Gewinn der
wissenschaftlichen Forschung zu verbreiten, ist es nie zu früh. Und nur um
diesen handelt es sich, nicht um unsichere Vermuthungen, um zweifelhafte That¬
sachen, um streitige Fragen, über welche die Acten noch nicht spruchreif sind.
Gewiß wird nach zehn oder zwanzig Jahren manches abermals in anderem
Lichte erscheinen; aber sollte deshalb nicht jetzt einmal das Facit gezogen
werden? Hier wäre das Bessere nur der Feind des Guten.

Recht eigentlich zur guten Stunde aber scheint uns das Werk zu kommen
für die Bedürfnisse des Publikums. Das Interesse für die bildende Kunst
ist entschieden, wenn auch in langsamem, so doch in stetigem Steigen be¬
griffen. Der Drang nach kunstgeschichtlicher Kenntniß, nach begründeter
aesthetischer Einsicht in die Schöpfungen der bildenden Kunst greift weiter
und weiter um sich, und vielleicht ist diese Strömung, wenn sie erst stärker
geworden sein wird, einmal berufen, dem alles überfluthenden, verweichlichen¬
den und sinnenumnebelnden Musikrausch unserer Tage kräftigend und klärend
entgegenzuwirken. Wir wollen auf eine einzige Thatsache hinweisen; es ist
eine Aeußerlichkeit, aber sie ist bezeichnend. Dieselbe Verlagshandlung, die
die vorliegende Publication bringt, giebt seit 1866 unter der Redaction von Prof.
Aitzow in Wien eine "Zeitschrift für bildende Kunst" heraus. Vorher waren
die bildenden Künste Jahre lang ohne jedes nennenswerthe literarische Organ, das


bittern", „Charakterköpfen" und „Studienköpfen" greift, als nach einer syste¬
matischen Darstellung. An der Wissenschaft liegt das auf keinen Fall. Daß,
wie der Prospect des vorliegenden Werkes sagt, „die volle Einsicht in das
Wesen und die Bedeutung eines Kunstwerkes in vielen Fällen erst durch die
Kenntniß von den individuellen Eigenthümlichkeiten des Meisters, von den
äußeren und inneren Bedingungen, unter denen sein Genius sich entwickelte,
vermittelt wird", das gilt doch wohl von den hervorragenden Geistern im
Staate, in der Wissenschaft, in der Poesie nicht minder als von denen in den
Künsten. Der wahre Grund scheint der zu sein, daß den letzteren gegenüber
das größere Publikum allerdings stets auf einer so zu sagen jugendlicheren
Stufe gestanden und deßhalb zu dieser saßbareren, eingänglicheren Darstellungs¬
form , die die Persönlichkeit in den Vordergrund rückt, sich mehr hingezogen
gefühlt hat. Man denke, welche Verbreitung in früheren Jahrhunderten
G. Vasart's Vitv de' Mtvri (zuerst erschienen 1550 in Florenz), I. v. San-
drart's Teutsche Academie (Nürnberg 1676 f.), A. Houbraken's Groote Schou-
bourgh (Amsterdam 1718 f.) gehabt haben! Aber auch für unsre Zeit wird
ein „moderner Vasari" noch immer einen hohen Reiz vor jedem kunstgeschicht¬
lichen Handbuche voraushaben.

Ob gerade der gegenwärtige Zeitpunkt geeignet sei, mit einem Werke
wie das vorliegende hervorzutreten, ob er vielleicht für die Wissenschaft selbst noch
etwas verfrüht sei, ist eine müßige Frage. Den gesicherten Gewinn der
wissenschaftlichen Forschung zu verbreiten, ist es nie zu früh. Und nur um
diesen handelt es sich, nicht um unsichere Vermuthungen, um zweifelhafte That¬
sachen, um streitige Fragen, über welche die Acten noch nicht spruchreif sind.
Gewiß wird nach zehn oder zwanzig Jahren manches abermals in anderem
Lichte erscheinen; aber sollte deshalb nicht jetzt einmal das Facit gezogen
werden? Hier wäre das Bessere nur der Feind des Guten.

Recht eigentlich zur guten Stunde aber scheint uns das Werk zu kommen
für die Bedürfnisse des Publikums. Das Interesse für die bildende Kunst
ist entschieden, wenn auch in langsamem, so doch in stetigem Steigen be¬
griffen. Der Drang nach kunstgeschichtlicher Kenntniß, nach begründeter
aesthetischer Einsicht in die Schöpfungen der bildenden Kunst greift weiter
und weiter um sich, und vielleicht ist diese Strömung, wenn sie erst stärker
geworden sein wird, einmal berufen, dem alles überfluthenden, verweichlichen¬
den und sinnenumnebelnden Musikrausch unserer Tage kräftigend und klärend
entgegenzuwirken. Wir wollen auf eine einzige Thatsache hinweisen; es ist
eine Aeußerlichkeit, aber sie ist bezeichnend. Dieselbe Verlagshandlung, die
die vorliegende Publication bringt, giebt seit 1866 unter der Redaction von Prof.
Aitzow in Wien eine „Zeitschrift für bildende Kunst" heraus. Vorher waren
die bildenden Künste Jahre lang ohne jedes nennenswerthe literarische Organ, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/413>, abgerufen am 26.06.2024.