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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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mit größtem Eifer und größter Hingebung gearbeitet worden ist, die der-
malige Summe unsres Wissens- zu ziehen und in gemeinverständlicher Form
über die Kreise der Fachgenossen hinaus zu verbreiten.

Die Zeit liegt nicht gar weit zurück, wo die moderne Kunstwissenschaft
den übrigen Wissenschaften noch keineswegs für ebenbürtig galt, wo ein Lehr¬
stuhl für Kunstgeschichte an den meisten deutschen Hochschulen noch zu den
frommen Wünschen zählte. Heute stehen die Dinge anders. Derselbe Wandel
der Auffassung und Werthschätzung, der augenblicklich der Literaturwissenschaft
gegenüber sich vollzieht und der Musikwissenschaft gegenüber, wenn sie sich
nur erst aus dem Parteigetreive, dem Dilettantismus und der Kritiklosigkeit
emporgearbeitet haben wird, sicherlich auch vollziehen wird, an der Kunst¬
wissenschaft hat er sich bereits vollzogen. Vor wenigen Jahren noch wurde
an mancher deutschen Hochschule ein Docent, Der es wagte, über deutsche
Literaturgeschichte im 18. Jahrhundert Vorlesungen zu halten, Shakespeare's
Hamlet oder Goethe's Faust zu interpretiren, von seinen Collegen über die
Achsel angesehen und wohl gar mit dem Feast- oder Tanzmeister der Uni¬
versität auf eine Stufe gestellt, und die kleine Anzahl von Studirenden, die
solche Vorlesungen besuchte, glaubte man väterlichst vor einer höchst gefährlichen
Schöngeisterei warnen zu müssen. Ein ganzes Semester lang aber an den
ersten hundert Versen einer Euripideischen Tragödie zu interpretiren oder in
Vorlesungen über griechische Literaturgeschichte unter anderm auf Grund von
zwei oder drei erhaltnen Fragmenten eines griechischen Dramas sich in zweck-
und resultatlosen Vermuthungen über den etwaigen Inhalt des Verlornen
Stückes zu ergehen, das galt für ehrenvoll und des Schweißes der Edlen für
werth. Heutzutage sind Gott Lob solche Widersprüche im Aussterben begriffen,
und was die Kunstwissenschaft betrifft, so sind sie schon seit Jahren ausge¬
storben. Die Zeiten sind vorüber, wo man es für beklagenswerthe Allotria
hielt, wenn ein deutscher Student sich um Dürer und Holbein, um Raffael
und Michel Angelo, um Rembrandt und Rubens kümmerte, während man
ihn doch zu begeistern suchte für die schlechteste Scherbe eines griechischen
Thongefäßes und für das kümmerlichste Bruchstück eines römischen Sarkophag¬
reliefs. Gleichberechtigt und gleichgeachtet steht die moderne Kunstwissenschaft
heute neben der Archäologie.

Sie selber aber ist es gewesen, die diese Stellung sich errungen hat.
Denn wie ist auf diesem Gebiete in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet
worden! Wie viele Thatsachen sind an's Licht gezogen, wie viele Annahmen
berichtigt, wie viele Irrthümer beseitigt worden! Wie ist die Erkenntniß
nach allen Seiten hin gereist, wie hat der Blick an der Betrachtung der Kunst¬
werke sich unablässig geschärft und verfeinert, wie hat die ganze Methode


mit größtem Eifer und größter Hingebung gearbeitet worden ist, die der-
malige Summe unsres Wissens- zu ziehen und in gemeinverständlicher Form
über die Kreise der Fachgenossen hinaus zu verbreiten.

Die Zeit liegt nicht gar weit zurück, wo die moderne Kunstwissenschaft
den übrigen Wissenschaften noch keineswegs für ebenbürtig galt, wo ein Lehr¬
stuhl für Kunstgeschichte an den meisten deutschen Hochschulen noch zu den
frommen Wünschen zählte. Heute stehen die Dinge anders. Derselbe Wandel
der Auffassung und Werthschätzung, der augenblicklich der Literaturwissenschaft
gegenüber sich vollzieht und der Musikwissenschaft gegenüber, wenn sie sich
nur erst aus dem Parteigetreive, dem Dilettantismus und der Kritiklosigkeit
emporgearbeitet haben wird, sicherlich auch vollziehen wird, an der Kunst¬
wissenschaft hat er sich bereits vollzogen. Vor wenigen Jahren noch wurde
an mancher deutschen Hochschule ein Docent, Der es wagte, über deutsche
Literaturgeschichte im 18. Jahrhundert Vorlesungen zu halten, Shakespeare's
Hamlet oder Goethe's Faust zu interpretiren, von seinen Collegen über die
Achsel angesehen und wohl gar mit dem Feast- oder Tanzmeister der Uni¬
versität auf eine Stufe gestellt, und die kleine Anzahl von Studirenden, die
solche Vorlesungen besuchte, glaubte man väterlichst vor einer höchst gefährlichen
Schöngeisterei warnen zu müssen. Ein ganzes Semester lang aber an den
ersten hundert Versen einer Euripideischen Tragödie zu interpretiren oder in
Vorlesungen über griechische Literaturgeschichte unter anderm auf Grund von
zwei oder drei erhaltnen Fragmenten eines griechischen Dramas sich in zweck-
und resultatlosen Vermuthungen über den etwaigen Inhalt des Verlornen
Stückes zu ergehen, das galt für ehrenvoll und des Schweißes der Edlen für
werth. Heutzutage sind Gott Lob solche Widersprüche im Aussterben begriffen,
und was die Kunstwissenschaft betrifft, so sind sie schon seit Jahren ausge¬
storben. Die Zeiten sind vorüber, wo man es für beklagenswerthe Allotria
hielt, wenn ein deutscher Student sich um Dürer und Holbein, um Raffael
und Michel Angelo, um Rembrandt und Rubens kümmerte, während man
ihn doch zu begeistern suchte für die schlechteste Scherbe eines griechischen
Thongefäßes und für das kümmerlichste Bruchstück eines römischen Sarkophag¬
reliefs. Gleichberechtigt und gleichgeachtet steht die moderne Kunstwissenschaft
heute neben der Archäologie.

Sie selber aber ist es gewesen, die diese Stellung sich errungen hat.
Denn wie ist auf diesem Gebiete in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet
worden! Wie viele Thatsachen sind an's Licht gezogen, wie viele Annahmen
berichtigt, wie viele Irrthümer beseitigt worden! Wie ist die Erkenntniß
nach allen Seiten hin gereist, wie hat der Blick an der Betrachtung der Kunst¬
werke sich unablässig geschärft und verfeinert, wie hat die ganze Methode


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/410>, abgerufen am 26.06.2024.