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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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damit wie Menschen handelnd auf. Sie sehen damit fast so barock aus wie die
Bilder, die sie in unsrer Uebersetzung begleiten.

Wir wählen von den neun hier mitgetheilten Märchen drei aus, um sie
als Beispiele von Anklängen an Züge in deutschen Erzählungen dieser Art
mit einigen Abkürzungen, die Unwesentliches betreffen, hier wiederzugeben.
Jene Züge werden den Lesern sofort wie uns gegenwärtig werden und ihnen
vielleicht ein Beweis sein, daß Japan in der Urzeit irgendwie -- wahr¬
scheinlich durch den Buddhismus -- mit der Urheimat!) unsrer deutschen
Märchen in Verbindung gewesen ist. Das erste dieser japanischen Märchen
nennt sich "Der Sperling mit der abgeschnittnen Zunge" und lautet etwa
folgendermaßen:

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Der alte Mann
hielt sich einen Sperling, den er mit großer Liebe und Sorgfalt fütterte und
aufzog. Die Frau aber war eigensinnig und grob. Nun hatte der Sperling
eines Tages an der Stärke, mit der sie ihre Leinwand steifen wollte, genascht,
und das machte sie so böse über das kleine Thier, daß sie ihm die Zunge
abschnitt und es zum Fenster hinausjagte. Wie nun der gute alte Mann
vom Felde heimkehrte, fand er, daß sein Sperling nicht mehr da war. Er
fragte, was aus dem Vogel geworden sei. Die alte Frau sagte, er habe von
ihrer Stärke gestohlen, und da habe sie ihm die Zunge abgeschnitten und ihn
fortgejagt. Da wurde der alte Mann sehr betrübt und sagte: "Ach wohin
kann wohl mein Vogel geflogen sein? Armes Ding! Du armer kleiner
Sperling mit der abgeschnittnen Zunge, wo hast Du jetzt wohl Dein Haus?"
Und er ging fort und wanderte weit und breit umher und rief hundert
Mal: "Herr Sperling, Herr Sperling, wo lebt Ihr jetzt?"

Eines Tages nun, am Fuße des Gebirges, begegnete dem alten Mann
sein Verlorner Vogel, und nachdem sie einander zu ihrem beiderseitigen Wohl¬
befinden gratulire hatten. nahm der Sperling den alten Mann mit in seine
Wohnung, wo er ihn seinem Weibe und seinen Kinderchen vorstellte und ihn
dann mit allerhand guten Bissen bewirthete. -- "Bitte, theile unsre schmale
Kost", sagte der Sperling. "So wenig es ist, so wird es gern gegeben". --
"Was für ein höflicher Sperling!" dachte der alte Mann, der nun lange
Zeit hier Gast blieb und jeden Tag ganz königlich gespeist wurde. Endlich
sagte der alte Mann, er müsse Abschied nehmen und nach Hause reisen (Kohl
schreibt zu Hause!), worauf der Vogel vor ihm zwei aus Weidenzweigen ge¬
flochtene Körbe hinsetzte und ihn bat, sich einen davon als Abschiedsgeschenk
mitzunehmen. Einer der Körbe war schwer, der andere leicht. Da sagte
der alte Mann bescheiden, weil er hochbejahrt und schwach sei, wolle er nur
den leichten Korb nehmen. Er hob ihn auf die Schulter und wanderte
heimwärts.


damit wie Menschen handelnd auf. Sie sehen damit fast so barock aus wie die
Bilder, die sie in unsrer Uebersetzung begleiten.

Wir wählen von den neun hier mitgetheilten Märchen drei aus, um sie
als Beispiele von Anklängen an Züge in deutschen Erzählungen dieser Art
mit einigen Abkürzungen, die Unwesentliches betreffen, hier wiederzugeben.
Jene Züge werden den Lesern sofort wie uns gegenwärtig werden und ihnen
vielleicht ein Beweis sein, daß Japan in der Urzeit irgendwie — wahr¬
scheinlich durch den Buddhismus — mit der Urheimat!) unsrer deutschen
Märchen in Verbindung gewesen ist. Das erste dieser japanischen Märchen
nennt sich „Der Sperling mit der abgeschnittnen Zunge" und lautet etwa
folgendermaßen:

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Der alte Mann
hielt sich einen Sperling, den er mit großer Liebe und Sorgfalt fütterte und
aufzog. Die Frau aber war eigensinnig und grob. Nun hatte der Sperling
eines Tages an der Stärke, mit der sie ihre Leinwand steifen wollte, genascht,
und das machte sie so böse über das kleine Thier, daß sie ihm die Zunge
abschnitt und es zum Fenster hinausjagte. Wie nun der gute alte Mann
vom Felde heimkehrte, fand er, daß sein Sperling nicht mehr da war. Er
fragte, was aus dem Vogel geworden sei. Die alte Frau sagte, er habe von
ihrer Stärke gestohlen, und da habe sie ihm die Zunge abgeschnitten und ihn
fortgejagt. Da wurde der alte Mann sehr betrübt und sagte: „Ach wohin
kann wohl mein Vogel geflogen sein? Armes Ding! Du armer kleiner
Sperling mit der abgeschnittnen Zunge, wo hast Du jetzt wohl Dein Haus?"
Und er ging fort und wanderte weit und breit umher und rief hundert
Mal: „Herr Sperling, Herr Sperling, wo lebt Ihr jetzt?"

Eines Tages nun, am Fuße des Gebirges, begegnete dem alten Mann
sein Verlorner Vogel, und nachdem sie einander zu ihrem beiderseitigen Wohl¬
befinden gratulire hatten. nahm der Sperling den alten Mann mit in seine
Wohnung, wo er ihn seinem Weibe und seinen Kinderchen vorstellte und ihn
dann mit allerhand guten Bissen bewirthete. — „Bitte, theile unsre schmale
Kost", sagte der Sperling. „So wenig es ist, so wird es gern gegeben". —
„Was für ein höflicher Sperling!" dachte der alte Mann, der nun lange
Zeit hier Gast blieb und jeden Tag ganz königlich gespeist wurde. Endlich
sagte der alte Mann, er müsse Abschied nehmen und nach Hause reisen (Kohl
schreibt zu Hause!), worauf der Vogel vor ihm zwei aus Weidenzweigen ge¬
flochtene Körbe hinsetzte und ihn bat, sich einen davon als Abschiedsgeschenk
mitzunehmen. Einer der Körbe war schwer, der andere leicht. Da sagte
der alte Mann bescheiden, weil er hochbejahrt und schwach sei, wolle er nur
den leichten Korb nehmen. Er hob ihn auf die Schulter und wanderte
heimwärts.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/396>, abgerufen am 26.06.2024.