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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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(Nördlingen 1837). Der Aufstand der Camisarden ging von der ersten Nothwehr
des Glaubenseifers (welche für den Romantiker Tiek von vorn herein Aufruhr
war), fort zu vifinonären Stimmungen, Ahnungen und Weissagungen, weiterhin
zu grausamen fanatischen Akten der Rache, und am Ende löste sich die ganze
Bewegung auf in prophetische Exaltationen, in die Auswanderung von neuen
Propheten, welche mit ihren Weissagungen und angeblichen Wundern halb
Europa in Mitleidenschaft versetzten, besonders England, und lange Zeit auch
in Deutschland viele Erregungen veranlaßten, während ihre strengsten Beur¬
theiler ihre Inspirationen für Teufelswerk erklärten. Man kannte die mittlere
Sphäre der sympathetisch-enthusiastischen Selbsterregungen und Selbsttäusch¬
ungen nicht, daher hieß es: entweder vom Geiste Gottes oder vom Teufel. Daß
die armen frommen Bauern in ihren Kitteln (daher ihr Name) ihren blut¬
gierigen Würgern gegenüber die volle Duldungskraft christlicher Märtyrer nicht
erreichen konnten, findet einen besonderen Entschuldigungsgrund in ihrem süd¬
lich gallischen Naturell.

Aber auch der französische Jansenismus wußte sich unter den Quälereien
seiner Widersacher, der Jesuiten, auf die Dauer nicht auf der Linie des reinen
Passiver Widerstandes zu erhalten. Wir müssen uns auch hier aus die Bekannt¬
schaft oder leichte Zugänglichkeit der Geschichte des französischen Jansenismus
in seinem Zusammenhang mit der Geschichte von Port-Royal beziehen. Der
eigentliche Ausgang der Jansenistischen Aufregungen knüpft sich an die be¬
rüchtigte Bulle IIiüMniws vom Jahr 1713, in welcher Clemens XI. auf
Veranlassung Ludwigs des XIV. oder vielmehr seines jesuitischen Beichtvaters
1'e1Il<zr 101 Sätze aus dem neutestamentlichen Bibelwerk von Quesnel
verdammt hatte. Augustinische und selbst biblische Sätze waren von diesem vati¬
kanischen Blitzstrahl getroffen, und ein großer Theil der französischen Geist¬
lichkeit mit einem Gefolge von Laien und vielen Bischöfen an der Spitze appel-
lirten in ausgestellten Urkunden von dem Papst und seiner Bulle an ein all¬
gemeines Conzil. Frankreich theilte sich in die zwei Parteien der Acceptanten
und der Appellanten, aber die Folge war, daß Clemens XI. die Appellanten
in den Bann that, und der moralische Muth der Bischöfe brach dann auch
zusammen, wie wieder neuerdings unter der päpstlichen Autorität. Ein Pariser
Diakonus aber, Franz von Paris, starb mit einer Appellationsurkunde in
der Hand. Das war der elektrische Funke, welcher den Jansenismus in
eine schwärmerisch enthusiastische Reaktion versetzten. Von seinem Grabe aus
schlug die Flamme einer geistigen Empörung gegen die jesuitischen Würger des
inneren Lebens hoch empor. Man besuchte das Grab des jungen Heiligen auf
dem Kirchhofe des h. Medardus, und bald verbreitete sich die Kunde von den
Wunderkräften, welche von dieser geweihten Stätte, auf welcher sich immer
größere Schaaren von Begeisterten sammelten, auszugehen schienen. Ohne


(Nördlingen 1837). Der Aufstand der Camisarden ging von der ersten Nothwehr
des Glaubenseifers (welche für den Romantiker Tiek von vorn herein Aufruhr
war), fort zu vifinonären Stimmungen, Ahnungen und Weissagungen, weiterhin
zu grausamen fanatischen Akten der Rache, und am Ende löste sich die ganze
Bewegung auf in prophetische Exaltationen, in die Auswanderung von neuen
Propheten, welche mit ihren Weissagungen und angeblichen Wundern halb
Europa in Mitleidenschaft versetzten, besonders England, und lange Zeit auch
in Deutschland viele Erregungen veranlaßten, während ihre strengsten Beur¬
theiler ihre Inspirationen für Teufelswerk erklärten. Man kannte die mittlere
Sphäre der sympathetisch-enthusiastischen Selbsterregungen und Selbsttäusch¬
ungen nicht, daher hieß es: entweder vom Geiste Gottes oder vom Teufel. Daß
die armen frommen Bauern in ihren Kitteln (daher ihr Name) ihren blut¬
gierigen Würgern gegenüber die volle Duldungskraft christlicher Märtyrer nicht
erreichen konnten, findet einen besonderen Entschuldigungsgrund in ihrem süd¬
lich gallischen Naturell.

Aber auch der französische Jansenismus wußte sich unter den Quälereien
seiner Widersacher, der Jesuiten, auf die Dauer nicht auf der Linie des reinen
Passiver Widerstandes zu erhalten. Wir müssen uns auch hier aus die Bekannt¬
schaft oder leichte Zugänglichkeit der Geschichte des französischen Jansenismus
in seinem Zusammenhang mit der Geschichte von Port-Royal beziehen. Der
eigentliche Ausgang der Jansenistischen Aufregungen knüpft sich an die be¬
rüchtigte Bulle IIiüMniws vom Jahr 1713, in welcher Clemens XI. auf
Veranlassung Ludwigs des XIV. oder vielmehr seines jesuitischen Beichtvaters
1'e1Il<zr 101 Sätze aus dem neutestamentlichen Bibelwerk von Quesnel
verdammt hatte. Augustinische und selbst biblische Sätze waren von diesem vati¬
kanischen Blitzstrahl getroffen, und ein großer Theil der französischen Geist¬
lichkeit mit einem Gefolge von Laien und vielen Bischöfen an der Spitze appel-
lirten in ausgestellten Urkunden von dem Papst und seiner Bulle an ein all¬
gemeines Conzil. Frankreich theilte sich in die zwei Parteien der Acceptanten
und der Appellanten, aber die Folge war, daß Clemens XI. die Appellanten
in den Bann that, und der moralische Muth der Bischöfe brach dann auch
zusammen, wie wieder neuerdings unter der päpstlichen Autorität. Ein Pariser
Diakonus aber, Franz von Paris, starb mit einer Appellationsurkunde in
der Hand. Das war der elektrische Funke, welcher den Jansenismus in
eine schwärmerisch enthusiastische Reaktion versetzten. Von seinem Grabe aus
schlug die Flamme einer geistigen Empörung gegen die jesuitischen Würger des
inneren Lebens hoch empor. Man besuchte das Grab des jungen Heiligen auf
dem Kirchhofe des h. Medardus, und bald verbreitete sich die Kunde von den
Wunderkräften, welche von dieser geweihten Stätte, auf welcher sich immer
größere Schaaren von Begeisterten sammelten, auszugehen schienen. Ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/39>, abgerufen am 26.06.2024.