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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Zweifel haben sich daselbst in dem Brennpunkte gallischer religiöser Erregung
außerordentliche Dinge zugetragen. Ein unverkennbares Merkmal krankhafter
psychscher Exaltation aber offenbarte sich in den Ostentationen der körperlichen
Gefühllosigkeit, Unempfindlichst gegen alle Peinigungen, welche sich unter den
Besuchern des verehrten Grabes verbreiteten. Die Bewegung war so außer¬
ordentlich, die Berichte von großen Wunderzeichen wirkten so stark, daß später¬
hin selbst in protestantischen Schriften jener geistigen Ereignisse in apolo¬
getischen Interesse für die biblischen Wunder verwerthet wurden. Gleichwohl
ist nicht zu verkennen, daß auch die frommen Jansenisten sich selber ein
psychisches Martyrium bereiteten, weil sie das pneumatische Martyrium nicht
zu finden wußten. Sie blieben von Anfang bis zu Ende von den Fesseln
der Autorität des Papstthums gebunden, während sie im Kampf mit den
personificirten Organe des Papstthums, den Jesuiten zu Grunde gingen. Eine
ausführliche Verhandlung der Wunder aus dem Grabe des Abbe' von Paris
hat Tholuck geliefert in seinen vermischten Schriften, 1. Theil B. 133 ff.
Insbesondere wird das Zeugniß des Herrn von Montgeron, eines angesehenen
Mitgliedes des französischen Parlamentes, welchen der Geist der Andacht und
der Entzückungen auf dem Grabe des Abbe Franz aus einem Freigeist zu
einem Märtyrer des Jansenismus gemacht hatte, nebst vielen anderen Ver¬
handlungen weitläufig erörtert.

Die Jesuiten erklärten die Jansenistischen Wunderwerke für Betrug. Was
sollte man dem zufolge von der gegenwärtigen großen ekstatischen Bewegung
in Frankreich, den Madonnenvisionen, den Brunnenmirakeln, den Wallfahrten
und Kreuzfahrten sagen? Zunächst ist dieses wohl ausgemacht: die ganze
Bewegung ist ein Produkt des gallischen sympathetischen Enthusiasmus, wie
das ja auch von den mittelalterlichen Kreuzzügen gilt. Wie es der gallische
Christianismus des Mittelalters unerträglich fand, daß das heilige Grab in
Jerusalem im Besitz der Ungläubigen war, so kann es der gallische Fanatis¬
mus der Gegenwart nicht ertragen, daß der Vatikan dem König von Italien
unterworfen ist, so wie daß Deutschland, die alte militairische Promenade
Frankreich's (nicht bloß Elsaß und Lothringen) einer protestantischen Reichs-
macht angehört. Wie aber in einer Sturmfluth zwei Potenzen zusammen
kommen, die Meeresfluth und der stürmende Seewind, so kommt in dieser
Bewegung die äußerste Aufregung des gallischen Geistes mit der äußersten
Empörung des jesuitischen Fanatismus zusammen. Es ist aber eine bekannte
Thatsache, daß Moliere der größte französische dramatische Dichter ist. Möchte
sein berühmtestes Drama, 1<z lartuts die Andacht der Nation mehr in An"
Spruch nehmen!




Zweifel haben sich daselbst in dem Brennpunkte gallischer religiöser Erregung
außerordentliche Dinge zugetragen. Ein unverkennbares Merkmal krankhafter
psychscher Exaltation aber offenbarte sich in den Ostentationen der körperlichen
Gefühllosigkeit, Unempfindlichst gegen alle Peinigungen, welche sich unter den
Besuchern des verehrten Grabes verbreiteten. Die Bewegung war so außer¬
ordentlich, die Berichte von großen Wunderzeichen wirkten so stark, daß später¬
hin selbst in protestantischen Schriften jener geistigen Ereignisse in apolo¬
getischen Interesse für die biblischen Wunder verwerthet wurden. Gleichwohl
ist nicht zu verkennen, daß auch die frommen Jansenisten sich selber ein
psychisches Martyrium bereiteten, weil sie das pneumatische Martyrium nicht
zu finden wußten. Sie blieben von Anfang bis zu Ende von den Fesseln
der Autorität des Papstthums gebunden, während sie im Kampf mit den
personificirten Organe des Papstthums, den Jesuiten zu Grunde gingen. Eine
ausführliche Verhandlung der Wunder aus dem Grabe des Abbe' von Paris
hat Tholuck geliefert in seinen vermischten Schriften, 1. Theil B. 133 ff.
Insbesondere wird das Zeugniß des Herrn von Montgeron, eines angesehenen
Mitgliedes des französischen Parlamentes, welchen der Geist der Andacht und
der Entzückungen auf dem Grabe des Abbe Franz aus einem Freigeist zu
einem Märtyrer des Jansenismus gemacht hatte, nebst vielen anderen Ver¬
handlungen weitläufig erörtert.

Die Jesuiten erklärten die Jansenistischen Wunderwerke für Betrug. Was
sollte man dem zufolge von der gegenwärtigen großen ekstatischen Bewegung
in Frankreich, den Madonnenvisionen, den Brunnenmirakeln, den Wallfahrten
und Kreuzfahrten sagen? Zunächst ist dieses wohl ausgemacht: die ganze
Bewegung ist ein Produkt des gallischen sympathetischen Enthusiasmus, wie
das ja auch von den mittelalterlichen Kreuzzügen gilt. Wie es der gallische
Christianismus des Mittelalters unerträglich fand, daß das heilige Grab in
Jerusalem im Besitz der Ungläubigen war, so kann es der gallische Fanatis¬
mus der Gegenwart nicht ertragen, daß der Vatikan dem König von Italien
unterworfen ist, so wie daß Deutschland, die alte militairische Promenade
Frankreich's (nicht bloß Elsaß und Lothringen) einer protestantischen Reichs-
macht angehört. Wie aber in einer Sturmfluth zwei Potenzen zusammen
kommen, die Meeresfluth und der stürmende Seewind, so kommt in dieser
Bewegung die äußerste Aufregung des gallischen Geistes mit der äußersten
Empörung des jesuitischen Fanatismus zusammen. Es ist aber eine bekannte
Thatsache, daß Moliere der größte französische dramatische Dichter ist. Möchte
sein berühmtestes Drama, 1<z lartuts die Andacht der Nation mehr in An«
Spruch nehmen!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/40>, abgerufen am 26.06.2024.