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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Religion, die Kirche aber ist nothwendig als ein Verein gegen das Böse,
welches in der Gesellschaft wuchert. Nicht anders urtheilt Lessing, (wenn er
auch den Offenbarungsglauben für etwas Providentielles hält), urtheilen die
Heroen unserer Literatur, Schiller und Goethe, und ihre Ueberzeugung wurzelt
in nichts anderem als im Glauben an den Fortschritt. Das wäre zu¬
nächst blos ein Fortschritt auf intellektuellem Gebiete. Nun behaupten aber
viele, die dies zugeben, die Welt sei in der Gesinnung irrreligiöser geworden
das religiöse Bedürfniß habe sich abgestumpft und der Nerv, welcher den
religiösen Sinn auch zur lebendigen That leite, habe seine Spannkraft ver¬
loren, nach der sittlichen Seite hin sei also in der Religion ein Rück¬
schritt bemerkbar. Diese Ansicht ist aber eine irrthümliche: der Jndifferentis-
mus in religiösen Fragen, welcher allerdings auch im Flor steht, bezieht sich
mehr auf die Schale, auf die metaphysische Form; diejenigen Fragen aber,
welche den Kern und das Wesen der Religion bilden, haben zu keiner Zeit
seit der Reformation mehr allgemeine Theilnahme erweckt als gerade heute.

Im innigsten Zusammenhang mit der Religion hat früher die Kunst
gestanden; alle Culturvölker von den Aegyptern an bis zu den deutschen und
romanischen Völkern des Mittelalters haben aus diesem Quell ihre Ideale
geschöpft, und es hat eine Wechselwirkung beider Gebiete auf den Menschen
stattgefunden, indem nicht bloß die religiösen Ideen zu künstlerischen Schöpf¬
ungen begeisterten, sondern die Anschauungen der Kunstgebilde aus Erhebung
des religiösen Sinnes mächtig hinwirkten. Hierfür liefert gerade das für die
Kunst empfänglichste Volk der Griechen den schlagendsten Beweis. Man
braucht nur an die Namen Aeschylus, und Pindar, an den olympischen Zeus
eines Phidias, an die ganze griechische Tempelarchitectonik zu denken. Dieses
Verhältniß ist in unserer modernen Kunst ein völlig anderes geworden; die
religiöse Kunst ist nicht mehr herrschend, sie begnügt sich mit einer kleinen
Provinz des großen Kunstgebietes, der kirchlichen Architectur. aber auch diese
bewegt sich meist in hergebrachten, typisch gewordenen Formen, sei es der
Gothik, sei es der Renaissance, sei es einer Vermischung beider Stile; wo
auf andern Kunstgebieten, wie z. B. dem der Malerei oder der Poesie, reli¬
giöse Motive zum Ausdruck gelangen, da sind diese nicht berechtigter als alle
übrigen; sie stehen auf gleicher Linie, und ihr Ursprung ist nicht etwa in
einer objectiven Thatsache, d. h. dem natürlichen Verbände von Kunst und
Religion, welcher nicht mehr besteht, sondern lediglich in der Subjectivität
des Künstlers zu suchen. Woher kommt das? Und ist es ein Fortschritt?
Die Kunst ist weltlicher geworden, und mußte es, wenn sie nicht verkümmern
wollte. Unsere Religion, zumal die protestantische, bietet der nachempfinden¬
den Phantasie keinen erheblichen Spielraum, sie entbehrt das Mythus und
entzieht dadurch der Kunst einen unerschöpflichen Quell der Motive. Man


Religion, die Kirche aber ist nothwendig als ein Verein gegen das Böse,
welches in der Gesellschaft wuchert. Nicht anders urtheilt Lessing, (wenn er
auch den Offenbarungsglauben für etwas Providentielles hält), urtheilen die
Heroen unserer Literatur, Schiller und Goethe, und ihre Ueberzeugung wurzelt
in nichts anderem als im Glauben an den Fortschritt. Das wäre zu¬
nächst blos ein Fortschritt auf intellektuellem Gebiete. Nun behaupten aber
viele, die dies zugeben, die Welt sei in der Gesinnung irrreligiöser geworden
das religiöse Bedürfniß habe sich abgestumpft und der Nerv, welcher den
religiösen Sinn auch zur lebendigen That leite, habe seine Spannkraft ver¬
loren, nach der sittlichen Seite hin sei also in der Religion ein Rück¬
schritt bemerkbar. Diese Ansicht ist aber eine irrthümliche: der Jndifferentis-
mus in religiösen Fragen, welcher allerdings auch im Flor steht, bezieht sich
mehr auf die Schale, auf die metaphysische Form; diejenigen Fragen aber,
welche den Kern und das Wesen der Religion bilden, haben zu keiner Zeit
seit der Reformation mehr allgemeine Theilnahme erweckt als gerade heute.

Im innigsten Zusammenhang mit der Religion hat früher die Kunst
gestanden; alle Culturvölker von den Aegyptern an bis zu den deutschen und
romanischen Völkern des Mittelalters haben aus diesem Quell ihre Ideale
geschöpft, und es hat eine Wechselwirkung beider Gebiete auf den Menschen
stattgefunden, indem nicht bloß die religiösen Ideen zu künstlerischen Schöpf¬
ungen begeisterten, sondern die Anschauungen der Kunstgebilde aus Erhebung
des religiösen Sinnes mächtig hinwirkten. Hierfür liefert gerade das für die
Kunst empfänglichste Volk der Griechen den schlagendsten Beweis. Man
braucht nur an die Namen Aeschylus, und Pindar, an den olympischen Zeus
eines Phidias, an die ganze griechische Tempelarchitectonik zu denken. Dieses
Verhältniß ist in unserer modernen Kunst ein völlig anderes geworden; die
religiöse Kunst ist nicht mehr herrschend, sie begnügt sich mit einer kleinen
Provinz des großen Kunstgebietes, der kirchlichen Architectur. aber auch diese
bewegt sich meist in hergebrachten, typisch gewordenen Formen, sei es der
Gothik, sei es der Renaissance, sei es einer Vermischung beider Stile; wo
auf andern Kunstgebieten, wie z. B. dem der Malerei oder der Poesie, reli¬
giöse Motive zum Ausdruck gelangen, da sind diese nicht berechtigter als alle
übrigen; sie stehen auf gleicher Linie, und ihr Ursprung ist nicht etwa in
einer objectiven Thatsache, d. h. dem natürlichen Verbände von Kunst und
Religion, welcher nicht mehr besteht, sondern lediglich in der Subjectivität
des Künstlers zu suchen. Woher kommt das? Und ist es ein Fortschritt?
Die Kunst ist weltlicher geworden, und mußte es, wenn sie nicht verkümmern
wollte. Unsere Religion, zumal die protestantische, bietet der nachempfinden¬
den Phantasie keinen erheblichen Spielraum, sie entbehrt das Mythus und
entzieht dadurch der Kunst einen unerschöpflichen Quell der Motive. Man


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[0386] Religion, die Kirche aber ist nothwendig als ein Verein gegen das Böse, welches in der Gesellschaft wuchert. Nicht anders urtheilt Lessing, (wenn er auch den Offenbarungsglauben für etwas Providentielles hält), urtheilen die Heroen unserer Literatur, Schiller und Goethe, und ihre Ueberzeugung wurzelt in nichts anderem als im Glauben an den Fortschritt. Das wäre zu¬ nächst blos ein Fortschritt auf intellektuellem Gebiete. Nun behaupten aber viele, die dies zugeben, die Welt sei in der Gesinnung irrreligiöser geworden das religiöse Bedürfniß habe sich abgestumpft und der Nerv, welcher den religiösen Sinn auch zur lebendigen That leite, habe seine Spannkraft ver¬ loren, nach der sittlichen Seite hin sei also in der Religion ein Rück¬ schritt bemerkbar. Diese Ansicht ist aber eine irrthümliche: der Jndifferentis- mus in religiösen Fragen, welcher allerdings auch im Flor steht, bezieht sich mehr auf die Schale, auf die metaphysische Form; diejenigen Fragen aber, welche den Kern und das Wesen der Religion bilden, haben zu keiner Zeit seit der Reformation mehr allgemeine Theilnahme erweckt als gerade heute. Im innigsten Zusammenhang mit der Religion hat früher die Kunst gestanden; alle Culturvölker von den Aegyptern an bis zu den deutschen und romanischen Völkern des Mittelalters haben aus diesem Quell ihre Ideale geschöpft, und es hat eine Wechselwirkung beider Gebiete auf den Menschen stattgefunden, indem nicht bloß die religiösen Ideen zu künstlerischen Schöpf¬ ungen begeisterten, sondern die Anschauungen der Kunstgebilde aus Erhebung des religiösen Sinnes mächtig hinwirkten. Hierfür liefert gerade das für die Kunst empfänglichste Volk der Griechen den schlagendsten Beweis. Man braucht nur an die Namen Aeschylus, und Pindar, an den olympischen Zeus eines Phidias, an die ganze griechische Tempelarchitectonik zu denken. Dieses Verhältniß ist in unserer modernen Kunst ein völlig anderes geworden; die religiöse Kunst ist nicht mehr herrschend, sie begnügt sich mit einer kleinen Provinz des großen Kunstgebietes, der kirchlichen Architectur. aber auch diese bewegt sich meist in hergebrachten, typisch gewordenen Formen, sei es der Gothik, sei es der Renaissance, sei es einer Vermischung beider Stile; wo auf andern Kunstgebieten, wie z. B. dem der Malerei oder der Poesie, reli¬ giöse Motive zum Ausdruck gelangen, da sind diese nicht berechtigter als alle übrigen; sie stehen auf gleicher Linie, und ihr Ursprung ist nicht etwa in einer objectiven Thatsache, d. h. dem natürlichen Verbände von Kunst und Religion, welcher nicht mehr besteht, sondern lediglich in der Subjectivität des Künstlers zu suchen. Woher kommt das? Und ist es ein Fortschritt? Die Kunst ist weltlicher geworden, und mußte es, wenn sie nicht verkümmern wollte. Unsere Religion, zumal die protestantische, bietet der nachempfinden¬ den Phantasie keinen erheblichen Spielraum, sie entbehrt das Mythus und entzieht dadurch der Kunst einen unerschöpflichen Quell der Motive. Man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/386>, abgerufen am 26.06.2024.