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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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will man ihre Rechtssphäre innerhalb des Staates und im Gegensatz zu ihm
abgrenzen, was nur dadurch möglich geworden ist, daß man mehr und mehr
zu der Ueberzeugung von der betrogenen Natur beider Begriffe gelangte --
ein ganz ungeheurer Fortschritt! -- Dann aber bedingt der wissenschaftliche
Fortschritt nothwendig auch den religiösen; das Dogma mußte mit sich reden
und rechnen lassen, sobald es mit den Ergebnissen der Wissenschaft in Con¬
flict gerieth. (Man denke bespielsweise nur an die alte Lehre von der Cen-
trallage der Erde im Universum und deren Umsturz durch das System des
Copernicus.) Und drittens wurzeln alle socialen Probleme denn doch auf
einem gesunden ethischen, das heißt, auf religiösem Grunde; es muß über¬
haupt unser Bestreben sein, alle Errungenschaften moderner Bildung mit
einem festen religiösen Standpunkte in Verbindung zu bringen. Wer den
Fortschritt in der Natur (der sinnlichen Objectivität) und in der Geschichte
(der geistigen Subjektivität) anerkennt, muß auch den teleologischen Charakter
derselben, er muß folgerichtig ein schaffendes Prinzip und einen Bezug des
denkenden Geschöpfes zu ihm, d.h. die Religion anerkennen. Wer aber, vom
Standpunkt des Offenbarungsglaubens aus, den Fortschritt auf diesem Ge¬
biete läugnet, muß entweder annehmen, daß hier allein jenem Weltgesetze
eine Fessel angelegt sei, oder daß alle bisher in der Geschichte aufgezeichneten
Fortschritte keine solche seien. Letztere Behauptung würde aber schon dadurch
mehr als bedenklich werden, daß auch hier wieder eine große Ausnahme an¬
genommen werden müßte, nämlich das Factum der Offenbarung selber; denn
diese müßte doch gegenüber der hinter ihr liegenden Perioden ein Fortschritt
genannt werden! Beide Glieder der Argumentation sind aber hinfällig, das
erste, weil es unvernünftig, das zweite, weil es ungeschichtlich ist. Die An¬
nahme also eines unverbrüchlich für alle Zeiten und alle Völker gegebenen,
eines unwandelbaren religiösen Canons wird durch die Idee des Fortschritts,
wie durch seine Geschichte widerlegt. Thatsache ist, daß die Formen der Gott¬
heit je nach den Anschauungen der Zeiten und der Völker wechseln, daß sie
dem geschichtlichen Prozeß unterworfen und von der Culturhöhe der Menschen
bedingt sind, darum sind sie auch immer anthropomorphisch, und werden es
bei allen Verschiedenheiten und aller Vervollkommung bleiben, so lange
Menschen auf der Erde sind. Es ist unschwer vorherzusagen, welchen Lauf
die innere Entwicklung der Religion nehmen wird. Der positiv-dogmatische
Gehalt wird sich mehr und mehr verflüchtigen und der Offenbarungsglauben
sich zu einer Vernunftsreligion klären. Unsere großen Denker, Kant an der Spitze,
sehen diese für die allein richtige und würdige an, und wenn sie zur Stunde noch
nicht die Welt erobert hat, so ist, wie Kant glaubt, allein die Schwachheit der mensch¬
liche Natur schuld daran; der reine Vernunftglaube würde noch nicht die Kraft
haben, eine Kirche zu gründen; zu diesem Behuf bedarf es einer positiven


Grenzboten III. 1875. 48

will man ihre Rechtssphäre innerhalb des Staates und im Gegensatz zu ihm
abgrenzen, was nur dadurch möglich geworden ist, daß man mehr und mehr
zu der Ueberzeugung von der betrogenen Natur beider Begriffe gelangte —
ein ganz ungeheurer Fortschritt! — Dann aber bedingt der wissenschaftliche
Fortschritt nothwendig auch den religiösen; das Dogma mußte mit sich reden
und rechnen lassen, sobald es mit den Ergebnissen der Wissenschaft in Con¬
flict gerieth. (Man denke bespielsweise nur an die alte Lehre von der Cen-
trallage der Erde im Universum und deren Umsturz durch das System des
Copernicus.) Und drittens wurzeln alle socialen Probleme denn doch auf
einem gesunden ethischen, das heißt, auf religiösem Grunde; es muß über¬
haupt unser Bestreben sein, alle Errungenschaften moderner Bildung mit
einem festen religiösen Standpunkte in Verbindung zu bringen. Wer den
Fortschritt in der Natur (der sinnlichen Objectivität) und in der Geschichte
(der geistigen Subjektivität) anerkennt, muß auch den teleologischen Charakter
derselben, er muß folgerichtig ein schaffendes Prinzip und einen Bezug des
denkenden Geschöpfes zu ihm, d.h. die Religion anerkennen. Wer aber, vom
Standpunkt des Offenbarungsglaubens aus, den Fortschritt auf diesem Ge¬
biete läugnet, muß entweder annehmen, daß hier allein jenem Weltgesetze
eine Fessel angelegt sei, oder daß alle bisher in der Geschichte aufgezeichneten
Fortschritte keine solche seien. Letztere Behauptung würde aber schon dadurch
mehr als bedenklich werden, daß auch hier wieder eine große Ausnahme an¬
genommen werden müßte, nämlich das Factum der Offenbarung selber; denn
diese müßte doch gegenüber der hinter ihr liegenden Perioden ein Fortschritt
genannt werden! Beide Glieder der Argumentation sind aber hinfällig, das
erste, weil es unvernünftig, das zweite, weil es ungeschichtlich ist. Die An¬
nahme also eines unverbrüchlich für alle Zeiten und alle Völker gegebenen,
eines unwandelbaren religiösen Canons wird durch die Idee des Fortschritts,
wie durch seine Geschichte widerlegt. Thatsache ist, daß die Formen der Gott¬
heit je nach den Anschauungen der Zeiten und der Völker wechseln, daß sie
dem geschichtlichen Prozeß unterworfen und von der Culturhöhe der Menschen
bedingt sind, darum sind sie auch immer anthropomorphisch, und werden es
bei allen Verschiedenheiten und aller Vervollkommung bleiben, so lange
Menschen auf der Erde sind. Es ist unschwer vorherzusagen, welchen Lauf
die innere Entwicklung der Religion nehmen wird. Der positiv-dogmatische
Gehalt wird sich mehr und mehr verflüchtigen und der Offenbarungsglauben
sich zu einer Vernunftsreligion klären. Unsere großen Denker, Kant an der Spitze,
sehen diese für die allein richtige und würdige an, und wenn sie zur Stunde noch
nicht die Welt erobert hat, so ist, wie Kant glaubt, allein die Schwachheit der mensch¬
liche Natur schuld daran; der reine Vernunftglaube würde noch nicht die Kraft
haben, eine Kirche zu gründen; zu diesem Behuf bedarf es einer positiven


Grenzboten III. 1875. 48
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/385>, abgerufen am 26.06.2024.