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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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denke an den griechischen Olymp, der mit den mannigfaltigsten, stets darstell¬
baren , stets concreten und anthropomorphistisch gedachten Göttergestalten be¬
völkert war, und daneben an das lebendig-sinnliche Naturgefühl jenes Volkes,
welches neben dem Himmel auch Erde Luft und Meer mit göttlichen Wesen
belebte. Daneben stelle man den abstracten, einförmigen, christlichen Himmel,
welcher der Kunst zwei wirklich darstellbare Personen liefert, die Mutter und
den Sohn, und selbst jene (mit dem ganzen Gefolge der Heiligen) der religi¬
ösen Verehrung des Protestanten entrückt hat. In der That hat die frühere
Kunst diesen beschränken Vorstellungskreis so nach allen Richtungen und
Variationen hin erschöpft, daß an ein freies Bewegen innerhalb desselben gar
nicht zu denken ist und der Schritt darüber hinaus gethan werden mußte.
Dieser Schritt ist aber ein Fortschritt, weil er der Kunst auf einmal eine
überwältigende Fülle neuer Aufgaben und Ziele stellt. --

Hätten wir uns zur Aufgabe gestellt, die Fortschritte des XIX. Jahr¬
hunderts zu constatiren. so wäre ein Eingehen auf die speziellen Künste viel¬
leicht erforderlich, so aber mag es genügen, im geschichtlichen Entwicklungs¬
prozeß das Gesetz des Fortschrittes im Allgemeinen auch für die Kunst in
Anspruch zu nehmen. Diese allerdings sehr allgemeine Aufstellung wird der¬
jenige wohl gelten lassen, welcher im Vergleich zu den Leistungen der Griechen
an die neuern und neuesten Schöpfungen im Reich der Farbe und der Töne
ja auch des geflügelten Wortes denkt. Welche Pracht, welche Tiefe, welcher
Umfang! Mögen hier einzelne Darstellungsweisen der Griechen auch jetzt
noch maaßgebend sein, ich kann mir nicht denken, daß sie für alle Zeiten
ewige Musterbilder geschaffen haben, auch nicht für die Sculptur, auch nicht
für das Heldengedicht. Phidias war ein Künstler, der jetzt noch für die
höchsten Aufgaben der Sculptur als canonisch gilt, vielleicht zur Zeit noch
gelten muß. Aber gleichwohl darf sich unser Zeitalter eines ungeheuern Fort¬
schrittes rühmen . er liegt darin, daß wir bewußt ausüben, was jene
Griechen instinctiv thaten und empfanden. Den deutlichsten Beweis dafür liefert
die platonische Aesthetik, welche es trotz jener erhabenen Vorbilder kaum zu
einem kindlichen Lallen gebracht hat. So groß Homer ist und so wenig auch
bei einem auf der Culturhöhe stehenden Volke seine spezielle, in ihrem Charakter
vollendete Art zum zweiten mal möglich ist (weil wir unsere Geschichte und
Cultur nicht rückläufig machen können), so nahe liegt und so berechtigt ist
die Annahme, daß unter andern Verhältnissen eine andere Gattung des
Epos erstehen kann, wo die Helden nicht nach der Kraft ihres Armes und
der Wucht ihres Hiebes, sondern nach der Kraft ihres Geistes und dem
Werth ihres Thuns gemessen werden. Wie es dermaleinst im Drama aussehen
werde, wissen wir nicht; wenn aber eine gewisse Richtung, die ihr Programm
mit möglichster Deutlichkeit und Zuversicht aufgestellt hat, Recht behalten


denke an den griechischen Olymp, der mit den mannigfaltigsten, stets darstell¬
baren , stets concreten und anthropomorphistisch gedachten Göttergestalten be¬
völkert war, und daneben an das lebendig-sinnliche Naturgefühl jenes Volkes,
welches neben dem Himmel auch Erde Luft und Meer mit göttlichen Wesen
belebte. Daneben stelle man den abstracten, einförmigen, christlichen Himmel,
welcher der Kunst zwei wirklich darstellbare Personen liefert, die Mutter und
den Sohn, und selbst jene (mit dem ganzen Gefolge der Heiligen) der religi¬
ösen Verehrung des Protestanten entrückt hat. In der That hat die frühere
Kunst diesen beschränken Vorstellungskreis so nach allen Richtungen und
Variationen hin erschöpft, daß an ein freies Bewegen innerhalb desselben gar
nicht zu denken ist und der Schritt darüber hinaus gethan werden mußte.
Dieser Schritt ist aber ein Fortschritt, weil er der Kunst auf einmal eine
überwältigende Fülle neuer Aufgaben und Ziele stellt. —

Hätten wir uns zur Aufgabe gestellt, die Fortschritte des XIX. Jahr¬
hunderts zu constatiren. so wäre ein Eingehen auf die speziellen Künste viel¬
leicht erforderlich, so aber mag es genügen, im geschichtlichen Entwicklungs¬
prozeß das Gesetz des Fortschrittes im Allgemeinen auch für die Kunst in
Anspruch zu nehmen. Diese allerdings sehr allgemeine Aufstellung wird der¬
jenige wohl gelten lassen, welcher im Vergleich zu den Leistungen der Griechen
an die neuern und neuesten Schöpfungen im Reich der Farbe und der Töne
ja auch des geflügelten Wortes denkt. Welche Pracht, welche Tiefe, welcher
Umfang! Mögen hier einzelne Darstellungsweisen der Griechen auch jetzt
noch maaßgebend sein, ich kann mir nicht denken, daß sie für alle Zeiten
ewige Musterbilder geschaffen haben, auch nicht für die Sculptur, auch nicht
für das Heldengedicht. Phidias war ein Künstler, der jetzt noch für die
höchsten Aufgaben der Sculptur als canonisch gilt, vielleicht zur Zeit noch
gelten muß. Aber gleichwohl darf sich unser Zeitalter eines ungeheuern Fort¬
schrittes rühmen . er liegt darin, daß wir bewußt ausüben, was jene
Griechen instinctiv thaten und empfanden. Den deutlichsten Beweis dafür liefert
die platonische Aesthetik, welche es trotz jener erhabenen Vorbilder kaum zu
einem kindlichen Lallen gebracht hat. So groß Homer ist und so wenig auch
bei einem auf der Culturhöhe stehenden Volke seine spezielle, in ihrem Charakter
vollendete Art zum zweiten mal möglich ist (weil wir unsere Geschichte und
Cultur nicht rückläufig machen können), so nahe liegt und so berechtigt ist
die Annahme, daß unter andern Verhältnissen eine andere Gattung des
Epos erstehen kann, wo die Helden nicht nach der Kraft ihres Armes und
der Wucht ihres Hiebes, sondern nach der Kraft ihres Geistes und dem
Werth ihres Thuns gemessen werden. Wie es dermaleinst im Drama aussehen
werde, wissen wir nicht; wenn aber eine gewisse Richtung, die ihr Programm
mit möglichster Deutlichkeit und Zuversicht aufgestellt hat, Recht behalten


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[0387] denke an den griechischen Olymp, der mit den mannigfaltigsten, stets darstell¬ baren , stets concreten und anthropomorphistisch gedachten Göttergestalten be¬ völkert war, und daneben an das lebendig-sinnliche Naturgefühl jenes Volkes, welches neben dem Himmel auch Erde Luft und Meer mit göttlichen Wesen belebte. Daneben stelle man den abstracten, einförmigen, christlichen Himmel, welcher der Kunst zwei wirklich darstellbare Personen liefert, die Mutter und den Sohn, und selbst jene (mit dem ganzen Gefolge der Heiligen) der religi¬ ösen Verehrung des Protestanten entrückt hat. In der That hat die frühere Kunst diesen beschränken Vorstellungskreis so nach allen Richtungen und Variationen hin erschöpft, daß an ein freies Bewegen innerhalb desselben gar nicht zu denken ist und der Schritt darüber hinaus gethan werden mußte. Dieser Schritt ist aber ein Fortschritt, weil er der Kunst auf einmal eine überwältigende Fülle neuer Aufgaben und Ziele stellt. — Hätten wir uns zur Aufgabe gestellt, die Fortschritte des XIX. Jahr¬ hunderts zu constatiren. so wäre ein Eingehen auf die speziellen Künste viel¬ leicht erforderlich, so aber mag es genügen, im geschichtlichen Entwicklungs¬ prozeß das Gesetz des Fortschrittes im Allgemeinen auch für die Kunst in Anspruch zu nehmen. Diese allerdings sehr allgemeine Aufstellung wird der¬ jenige wohl gelten lassen, welcher im Vergleich zu den Leistungen der Griechen an die neuern und neuesten Schöpfungen im Reich der Farbe und der Töne ja auch des geflügelten Wortes denkt. Welche Pracht, welche Tiefe, welcher Umfang! Mögen hier einzelne Darstellungsweisen der Griechen auch jetzt noch maaßgebend sein, ich kann mir nicht denken, daß sie für alle Zeiten ewige Musterbilder geschaffen haben, auch nicht für die Sculptur, auch nicht für das Heldengedicht. Phidias war ein Künstler, der jetzt noch für die höchsten Aufgaben der Sculptur als canonisch gilt, vielleicht zur Zeit noch gelten muß. Aber gleichwohl darf sich unser Zeitalter eines ungeheuern Fort¬ schrittes rühmen . er liegt darin, daß wir bewußt ausüben, was jene Griechen instinctiv thaten und empfanden. Den deutlichsten Beweis dafür liefert die platonische Aesthetik, welche es trotz jener erhabenen Vorbilder kaum zu einem kindlichen Lallen gebracht hat. So groß Homer ist und so wenig auch bei einem auf der Culturhöhe stehenden Volke seine spezielle, in ihrem Charakter vollendete Art zum zweiten mal möglich ist (weil wir unsere Geschichte und Cultur nicht rückläufig machen können), so nahe liegt und so berechtigt ist die Annahme, daß unter andern Verhältnissen eine andere Gattung des Epos erstehen kann, wo die Helden nicht nach der Kraft ihres Armes und der Wucht ihres Hiebes, sondern nach der Kraft ihres Geistes und dem Werth ihres Thuns gemessen werden. Wie es dermaleinst im Drama aussehen werde, wissen wir nicht; wenn aber eine gewisse Richtung, die ihr Programm mit möglichster Deutlichkeit und Zuversicht aufgestellt hat, Recht behalten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/387>, abgerufen am 26.06.2024.