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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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heiliges Feuer, und das vermögen jene beiden nicht zu liefern. Und die
Männer der Wissenschaft, werden auch sie mit den Fortschritten derselben
durch stetige Erweiterung und Vertiefung, an sich selber endlich den Fort¬
schritt erleben, daß ihre Existenz eine behaglichere wird, ich meine, daß ihr
Wohlbefinden, ihr physisches Leben durch den strengen Dienst nicht verkümmert
und gefährdet, daß es nicht zu einem Märtyrerthum des Geistes wird?
Schwerlich, denn dergleichen Rücksichten auf die Individuen kennt leider der
Fortschritt nicht; jede Idee will ihre Opfer haben: Sie werden ihre Be¬
friedigung in der Erfüllung der Pflicht, im Genuß an der Arbeit, im Hoch¬
gefühl ihrer Entdeckungen zu suchen haben, es ist viel, und ein Mehreres
wird ihnen nicht gegönnt. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß diese
oder jene Wissenschaft im Lauf der Zeit eine Masse Ballastes über
Bord werfen wird, welcher theils durch neue Entdeckungen, theils auch
durch absolute Werthlosigkeit überflüssig geworden ist -- die chinesischen Dy¬
nastien und anderes Personen- und Zahlengerümpel dürfte, beispielsweise, ein¬
mal jenem Schicksal verfallen -- aber trotzdem und trotz der Theilung der
Arbeit verlangt die Pflege der reinen Wissenschaft von ihren auserlesenen
Jüngern mit jedem Jahre mehr. Wer sich's daneben noch glaubt bequem
machen zu können, müßte die Natur einen Chalkenteros haben, und das sind
die Ausnahmen. -- Nach ^dem oben Gesagten wird man wohl behaupten
dürfen: Die Fortschritte in den einzelnen Wissenschaften verhalte:? sich heut
zu Tage, mit Ausnahme der angewandten Naturwissenschaften, gerade um¬
gekehrt zu der Werthschätzung der Wissenschaft durch die große Masse: hier
ist eher ein Rückschritt bemerkbar; und wenn im glaubenseisrigen Mittelalter
die Völkerepidemien der öffentlichen Meinung (um mit Riehl zu sprechen) religiös
waren, so sind sie in unserer Zeit nicht etwa wissenschaftlich, sondern politisch¬
social geworden. So wenig wir es aber tadeln würden, wenn man die Be¬
geisterung des Volks für die Wissenschaft als eine Epidemie bezeichnen wollte
und könnte, so wenig soll mit jener Behauptung ein Tadel ausgesprochen
sein. Im Gegentheil; auf socialem Gebiet ist der Fortschritt ungeheuer,
er zeigt sich gerade hier am handgreiflichsten, und alle Mißwüchse, alle Ueber¬
treibungen, alles regellose Hasten und Ueberstürzen können ihn nicht ver¬
dunkeln. Die Geschichte kann nicht anders, als ein großartiges Entwicklungs¬
gesetz anerkennen, gemäß welchem im Alterthum die Idee des Staates, im
Mittelalter die Idee der Kirche, in unserer Zeit die der Gesellschaft in
ihrem manigfaltigen Probleme staatswirthschaftlicher, politischer, pädagogischer
und ethischer Natur zur Erscheinung und Durchbildung kam oder noch in
diesem Prozesse begriffen ist. Daß in diesem Zeitendrama auch der Religion
eine Rolle zugedacht ist, das sehen und wissen wir, und es hat auch seine
guten Gründe. Sie sind theils äußerer, theils innerer Natur. Fürs Erste


heiliges Feuer, und das vermögen jene beiden nicht zu liefern. Und die
Männer der Wissenschaft, werden auch sie mit den Fortschritten derselben
durch stetige Erweiterung und Vertiefung, an sich selber endlich den Fort¬
schritt erleben, daß ihre Existenz eine behaglichere wird, ich meine, daß ihr
Wohlbefinden, ihr physisches Leben durch den strengen Dienst nicht verkümmert
und gefährdet, daß es nicht zu einem Märtyrerthum des Geistes wird?
Schwerlich, denn dergleichen Rücksichten auf die Individuen kennt leider der
Fortschritt nicht; jede Idee will ihre Opfer haben: Sie werden ihre Be¬
friedigung in der Erfüllung der Pflicht, im Genuß an der Arbeit, im Hoch¬
gefühl ihrer Entdeckungen zu suchen haben, es ist viel, und ein Mehreres
wird ihnen nicht gegönnt. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß diese
oder jene Wissenschaft im Lauf der Zeit eine Masse Ballastes über
Bord werfen wird, welcher theils durch neue Entdeckungen, theils auch
durch absolute Werthlosigkeit überflüssig geworden ist — die chinesischen Dy¬
nastien und anderes Personen- und Zahlengerümpel dürfte, beispielsweise, ein¬
mal jenem Schicksal verfallen — aber trotzdem und trotz der Theilung der
Arbeit verlangt die Pflege der reinen Wissenschaft von ihren auserlesenen
Jüngern mit jedem Jahre mehr. Wer sich's daneben noch glaubt bequem
machen zu können, müßte die Natur einen Chalkenteros haben, und das sind
die Ausnahmen. — Nach ^dem oben Gesagten wird man wohl behaupten
dürfen: Die Fortschritte in den einzelnen Wissenschaften verhalte:? sich heut
zu Tage, mit Ausnahme der angewandten Naturwissenschaften, gerade um¬
gekehrt zu der Werthschätzung der Wissenschaft durch die große Masse: hier
ist eher ein Rückschritt bemerkbar; und wenn im glaubenseisrigen Mittelalter
die Völkerepidemien der öffentlichen Meinung (um mit Riehl zu sprechen) religiös
waren, so sind sie in unserer Zeit nicht etwa wissenschaftlich, sondern politisch¬
social geworden. So wenig wir es aber tadeln würden, wenn man die Be¬
geisterung des Volks für die Wissenschaft als eine Epidemie bezeichnen wollte
und könnte, so wenig soll mit jener Behauptung ein Tadel ausgesprochen
sein. Im Gegentheil; auf socialem Gebiet ist der Fortschritt ungeheuer,
er zeigt sich gerade hier am handgreiflichsten, und alle Mißwüchse, alle Ueber¬
treibungen, alles regellose Hasten und Ueberstürzen können ihn nicht ver¬
dunkeln. Die Geschichte kann nicht anders, als ein großartiges Entwicklungs¬
gesetz anerkennen, gemäß welchem im Alterthum die Idee des Staates, im
Mittelalter die Idee der Kirche, in unserer Zeit die der Gesellschaft in
ihrem manigfaltigen Probleme staatswirthschaftlicher, politischer, pädagogischer
und ethischer Natur zur Erscheinung und Durchbildung kam oder noch in
diesem Prozesse begriffen ist. Daß in diesem Zeitendrama auch der Religion
eine Rolle zugedacht ist, das sehen und wissen wir, und es hat auch seine
guten Gründe. Sie sind theils äußerer, theils innerer Natur. Fürs Erste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/384>, abgerufen am 26.06.2024.