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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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einrichtungen, rationelle Methoden und andere Vorzüge unserer Zeit
klingen mag. Es fällt mir gar nicht ein, diese Vorzüge bestreiten zu wollen,
aber ich behaupte, solange über diese Wohlthaten die Kinder ihre Jugend-
frische, ihre Naivetät mitsammt ihrem kostbaren Augenlicht einbüßen, solange
durch des Gedankens frühreife Blase ihre Wange angekränkelt wird, so lange ist
und bleibt etwas faul in jenem gepriesenen Unterricht. Und wie soll es
besser werden, wie soll die Jugend sich ihrer Jugend freuen können, wenn
die Anforderungen an ihre leibliche und geistige Arbeit von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt sich steigern? Wohl hört man gegenüber der wachsenden Ueber¬
fülle von Stoffen und Disciplinen auch Warnstimmen, welche auf das gerade
Gegentheil, auf Concentration des Unterrichts dringen -- aber wie kann diese
höchst gerechtfertigte Anforderung erfüllt werden, wenn und solange vom
Knaben die Reife des Jünglings, vom Jüngling der Kenntniß des reifen
Mannes d. h. unter allen Umständen zu viel verlangt wird? Nur dann --
und es wird so kommen müssen -- wenn wir einmal über den Basedow'schen
Standpunkt, in den wir richtig hineingerathen sind, wieder herauskommen,
den Standtpunkt nämlich der kleinlichsten Nützlichkeitskrämerei, welcher
sogenannte praktische Bildung, einen auf das "Leben" berechneten und zuge¬
stutztem Unterricht verlangt, und folgerichtig zu einer handwerksmäßigen
Verachtung jeder wahren Bildung führt, und wenn wir zweitens, in
jeder Disziplin nach der Quantität hin Maß halten. Der Schüler kann nicht
sein und braucht nicht in allen Einzelheiten ein Microcosmus des Lebens zu
sein. Aber einstweilen weht ein ganz conträrer Wind. "Der Begriff der
geistigen Bildung, der Erziehung des Menschen verliert sich zusehens und
setzt sich in immer steigendem Maße beim Publicum in die Vorstellung um,
daß es ankomme auf die Erwerbung praktisch nützlicher Fertigkeiten, auf
möglichst frühe Ablichtung zu einem Beruf. Die speciellen Vorschulen ge¬
winnen übermäßigen Raum und in den für die academischen Studien bestimmten
Vorbildungsanstalten wird durch die Mannhaftigkeit des Lehrstoffes die
Möglichkeit des rechten, freien, liberalen Denkens erdrückt. Man vergißt auch,
daß die Universitäten pr opä deu t ische Anstalten sind und eine Menge
von Gegenständen der Forschung dem Selbststudium überlaßen werden müssen"
(Mommsen). Wenn von der "Bildung des Jahrhunderts" in ihrem Werth
für Individuen und Völker gesprochen, wenn der Schulmeister (wie es im
letzten großen Kriege, aber auch schon früher z. B. durch den großen englischen
Staatsmann Brougham geschah) als der Heros gepriesen wird, der die
Leibes- und Geistesschlachten des Jahrhunderts gewinnt, so kann unter jener
Bildung unmöglich der platte Avrichtungsapparat zu den handgreiflichsten
Utilitätszwecken, unter diesem nicht der gewöhnliche Drillmeister verstanden
werden; zum Schlachtenseuer gehört auch, wenn es wirksam sein soll, etwas


einrichtungen, rationelle Methoden und andere Vorzüge unserer Zeit
klingen mag. Es fällt mir gar nicht ein, diese Vorzüge bestreiten zu wollen,
aber ich behaupte, solange über diese Wohlthaten die Kinder ihre Jugend-
frische, ihre Naivetät mitsammt ihrem kostbaren Augenlicht einbüßen, solange
durch des Gedankens frühreife Blase ihre Wange angekränkelt wird, so lange ist
und bleibt etwas faul in jenem gepriesenen Unterricht. Und wie soll es
besser werden, wie soll die Jugend sich ihrer Jugend freuen können, wenn
die Anforderungen an ihre leibliche und geistige Arbeit von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt sich steigern? Wohl hört man gegenüber der wachsenden Ueber¬
fülle von Stoffen und Disciplinen auch Warnstimmen, welche auf das gerade
Gegentheil, auf Concentration des Unterrichts dringen — aber wie kann diese
höchst gerechtfertigte Anforderung erfüllt werden, wenn und solange vom
Knaben die Reife des Jünglings, vom Jüngling der Kenntniß des reifen
Mannes d. h. unter allen Umständen zu viel verlangt wird? Nur dann —
und es wird so kommen müssen — wenn wir einmal über den Basedow'schen
Standpunkt, in den wir richtig hineingerathen sind, wieder herauskommen,
den Standtpunkt nämlich der kleinlichsten Nützlichkeitskrämerei, welcher
sogenannte praktische Bildung, einen auf das „Leben" berechneten und zuge¬
stutztem Unterricht verlangt, und folgerichtig zu einer handwerksmäßigen
Verachtung jeder wahren Bildung führt, und wenn wir zweitens, in
jeder Disziplin nach der Quantität hin Maß halten. Der Schüler kann nicht
sein und braucht nicht in allen Einzelheiten ein Microcosmus des Lebens zu
sein. Aber einstweilen weht ein ganz conträrer Wind. „Der Begriff der
geistigen Bildung, der Erziehung des Menschen verliert sich zusehens und
setzt sich in immer steigendem Maße beim Publicum in die Vorstellung um,
daß es ankomme auf die Erwerbung praktisch nützlicher Fertigkeiten, auf
möglichst frühe Ablichtung zu einem Beruf. Die speciellen Vorschulen ge¬
winnen übermäßigen Raum und in den für die academischen Studien bestimmten
Vorbildungsanstalten wird durch die Mannhaftigkeit des Lehrstoffes die
Möglichkeit des rechten, freien, liberalen Denkens erdrückt. Man vergißt auch,
daß die Universitäten pr opä deu t ische Anstalten sind und eine Menge
von Gegenständen der Forschung dem Selbststudium überlaßen werden müssen"
(Mommsen). Wenn von der „Bildung des Jahrhunderts" in ihrem Werth
für Individuen und Völker gesprochen, wenn der Schulmeister (wie es im
letzten großen Kriege, aber auch schon früher z. B. durch den großen englischen
Staatsmann Brougham geschah) als der Heros gepriesen wird, der die
Leibes- und Geistesschlachten des Jahrhunderts gewinnt, so kann unter jener
Bildung unmöglich der platte Avrichtungsapparat zu den handgreiflichsten
Utilitätszwecken, unter diesem nicht der gewöhnliche Drillmeister verstanden
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/383>, abgerufen am 26.06.2024.