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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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unserer Zelt ein ideelles Gegenwinde "mehr oder weniger" " wünschbar"
"scheine" -- möchte sie dann gefälligst einen theils bequemeren, theils
ausgiebigeren Fundort des besagten Idealismus nachweisen. Für einstweilen
mag sie sich sagen lassen, daß es keine wahre Bildung giebt ohne geschichtliche
Grundlagen, d. l). ohne Vertiefung, und keinen wirklich bildenden Unterricht
ohne ideale Momente. Die Generation, welcher in der Schule solche vorent¬
halten würden, kann recht Brauchbares leisten für das Leben, sie kann es
sogar herrlich weit bringen im Erwerben und Herstellen greifbarer Güter, sie
kann bis zu einem Punkte aufgeklärt sein -- aber gebildet ist sie nicht;
wenn sie trotzdem abschätzen will über Fragen, welche ihren Horizont über¬
steigen, so geht's ihr wie dem Blinden mit den Farben, und es überkommt
uns dasselbe mitleidige Gefühl, wie den Mediziner, wenn ihn ein eifriger
Laie wegen des Impfzwanges zur Rede stellt. Allerdings muß sofort beigefügt
werden, daß an dieser Discreditirung der Wissenschaft die Träger selber, die
Philologen, nicht ganz unschuldig sind. Theils durch Uebertreibung,
theils durch falsche B e t reihum g, besonders zu erzieherischen Zwecken, haben
sie geschadet und schaden sie heute noch. Ich kann es nicht für einen Rück¬
schritt halten, wenn neben Latein und Griechisch auch noch andere Dinge zur
Geltung und zwar zur vollen Geltung im Unterricht gelangen, aber was
dann den Inhalt jenes Unterrichtes ausmacht darf nicht etwa bloß geduldet
sein, wie sich die vornehme Weisheit der Realisten gar zu gern geberdet,
sondern es muH mit Ueberzeugung und Liebe, mit dem vollem Bewußtsein
seines Werthes aufgenommen werden. Wenn dieß jetzt leider nicht mehr ge¬
schieht, so hoffen wir, im Vertrauen auf den unwandelbaren Fortschritt,
daß es früher oder später wieder geschehen werde, und zwar zu einer Zeit, wo
beispielsweise der gute Homer doch für zu gut gelten wird, als daß er einen
bloßen Tummelplatz für grammaticalische Turniere, für Silbenstecherei und
Wortgefechte abgeben dürfte. Es könnte dann auch nichts schaden (und wird
hoffentlich auch dazu wieder kommen), daß die philologischen Coterien und der
Autoritätsdruck der regierenden Häupter etwas beschränkt würden, daß neben
dem Dogma von der alleinseligmachenden Methode auch das ästhetische, Herz
und Gemüth anregende Moment des innern Gehaltes zu seinem Rechte käme,
daß die jungen Seminaristen nicht zu einer vorzeitigen Wortkritik der Theile
eingeschult würden, bevor sie die Kenntniß und den Genuß des Ganzen in sich
aufgenommen haben, und daß sie zu diesem Zweck ihren Scharfsinn nicht an
den entlegensten obscursten Scribenten sondern an den El assikern übten. Dann,
aber nur dann, werden wir wieder einen Fortschritt zu constatiren haben.
Ich bin somit ungesucht auf das Gebiet der Erziehung gelangt, aber offen
gestanden wird es mir hier am schwersten, einen unbedingten Fortschritt nach¬
zuweisen, so paradox auch dieß inmitten der Lobgesänge über verbesserte Schul-


unserer Zelt ein ideelles Gegenwinde „mehr oder weniger" „ wünschbar"
„scheine" — möchte sie dann gefälligst einen theils bequemeren, theils
ausgiebigeren Fundort des besagten Idealismus nachweisen. Für einstweilen
mag sie sich sagen lassen, daß es keine wahre Bildung giebt ohne geschichtliche
Grundlagen, d. l). ohne Vertiefung, und keinen wirklich bildenden Unterricht
ohne ideale Momente. Die Generation, welcher in der Schule solche vorent¬
halten würden, kann recht Brauchbares leisten für das Leben, sie kann es
sogar herrlich weit bringen im Erwerben und Herstellen greifbarer Güter, sie
kann bis zu einem Punkte aufgeklärt sein — aber gebildet ist sie nicht;
wenn sie trotzdem abschätzen will über Fragen, welche ihren Horizont über¬
steigen, so geht's ihr wie dem Blinden mit den Farben, und es überkommt
uns dasselbe mitleidige Gefühl, wie den Mediziner, wenn ihn ein eifriger
Laie wegen des Impfzwanges zur Rede stellt. Allerdings muß sofort beigefügt
werden, daß an dieser Discreditirung der Wissenschaft die Träger selber, die
Philologen, nicht ganz unschuldig sind. Theils durch Uebertreibung,
theils durch falsche B e t reihum g, besonders zu erzieherischen Zwecken, haben
sie geschadet und schaden sie heute noch. Ich kann es nicht für einen Rück¬
schritt halten, wenn neben Latein und Griechisch auch noch andere Dinge zur
Geltung und zwar zur vollen Geltung im Unterricht gelangen, aber was
dann den Inhalt jenes Unterrichtes ausmacht darf nicht etwa bloß geduldet
sein, wie sich die vornehme Weisheit der Realisten gar zu gern geberdet,
sondern es muH mit Ueberzeugung und Liebe, mit dem vollem Bewußtsein
seines Werthes aufgenommen werden. Wenn dieß jetzt leider nicht mehr ge¬
schieht, so hoffen wir, im Vertrauen auf den unwandelbaren Fortschritt,
daß es früher oder später wieder geschehen werde, und zwar zu einer Zeit, wo
beispielsweise der gute Homer doch für zu gut gelten wird, als daß er einen
bloßen Tummelplatz für grammaticalische Turniere, für Silbenstecherei und
Wortgefechte abgeben dürfte. Es könnte dann auch nichts schaden (und wird
hoffentlich auch dazu wieder kommen), daß die philologischen Coterien und der
Autoritätsdruck der regierenden Häupter etwas beschränkt würden, daß neben
dem Dogma von der alleinseligmachenden Methode auch das ästhetische, Herz
und Gemüth anregende Moment des innern Gehaltes zu seinem Rechte käme,
daß die jungen Seminaristen nicht zu einer vorzeitigen Wortkritik der Theile
eingeschult würden, bevor sie die Kenntniß und den Genuß des Ganzen in sich
aufgenommen haben, und daß sie zu diesem Zweck ihren Scharfsinn nicht an
den entlegensten obscursten Scribenten sondern an den El assikern übten. Dann,
aber nur dann, werden wir wieder einen Fortschritt zu constatiren haben.
Ich bin somit ungesucht auf das Gebiet der Erziehung gelangt, aber offen
gestanden wird es mir hier am schwersten, einen unbedingten Fortschritt nach¬
zuweisen, so paradox auch dieß inmitten der Lobgesänge über verbesserte Schul-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/382>, abgerufen am 26.06.2024.