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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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seiner Willkür machten, haben sie der Entsittlichung ihres Volkes Thür
und Thor geöffnet. Auch nach Aristoteles tritt ein merklicher Rückschritt in
der reinen, d. h. wissenschaftlichen Philosophie ein, indem sich die Schulen
mit Vorliebe dem Aufbau der praktischen Philosophie zuwandten. Aber
trotzdem konnte der Fortschritt auf die Länge nicht aufgehalten, geschweige
zurückgestaut werden: der Idealismus war und blieb seit Socrates eine
eroberte Domäne, das philosophische Denken, das einmal durch die Griechen
vom dogmatisch-religiösen Bann befreit worden war, ist trotz dem Rückfall
des Mittelalters von ihm emanzipirt geblieben, und gestützt auf die granitene
Grundlage des aristotelischen Organon hat Kant seinen kritischen Riesenbau
aufgeführt. Er hat sich dabei durch die Autorität des großen griechischen
Denkers weder blenden noch binden lassen und ist über ihn hinausgegangen, wie
andere wieder über ihn selbst; erst einem neuen (sonst verdienstvollen) Phisosvphen
(Trendelenburg) war das unbegreifliche Dogma vorbehalten, daß die Philosophie
mit Aristoteles ihren Abschluß erreicht habe und ein Hinausgehen über dessen
System nicht möglich sei. Für einen großen Fortschritt muß es auch ange¬
sehen werden, daß die Philosophie durch Kant und theilweise auch seit Kant
sich bescheiden mit der Musterung ihres Inventars und Rüstzeuges abgab,
und prüfte, ob und wie weit sie im Besitz desselben zu Ausflügen in die unend¬
lichen Räume der Metaphysik befugt und gestählt sei. Die Bedingungen der
Möglichkeit des Erkennens bilden in der That seit Kant beinahe die ganze
Metaphysik der Neuern; statt der letzten Grenze der Dinge kann die Vernunft
bloß die Grenze ihres eigenen Vermögens erforschen, diese Wissenschaft aber
von der Grenze der Vernunft muß, wenn sie ehrlich ist, ihren Protest erheben
gegen die mechanisch-materialistische Anschauung unserer Tage, welche nicht
etwa übervernünftig, sondern vernunftwidrig ist und innerhalb
der Vernunftgrenze aä adsuräum geführt werden kann. Und so darf man
wohl behaupten, daß gegenüber der Anschauung eines Plato und Aristoteles,
welche eine mit vollendeter Zweckthätigkeit in der Natur wirkende Kraft an¬
nahmen, die moderne mechanische Auffassung ein Rückschritt sei, den allerdings
zum Glück unfruchtbare Philosophen weniger als die fruchtbaren Natur¬
forscher verschulden. Wenn man die allerneuste Philosophie, welche von nam¬
haften Vertretern der Naturwissenschaft (z. B. Häckel in Jena) vorgetragen
wird, prüft, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie nicht
bloß den Naturprozeß als einem stetigen Fortschritt unterworfen annehme,
sondern die schöpferische Kraft selber, so weit sie nämlich einer solchen zu be¬
dürfen glaubt, als unter diesem Weltgesetz stehend denke -- mit andern Worten,
daß Gott selber, welchen bisher der gesunde Menschenverstand als das be¬
wirkende Subject des Fortschritts voraussetzte, nun plötzlich als eines
der Objecte desselben aufgefaßt werden müsse, woraus sich dann folge


seiner Willkür machten, haben sie der Entsittlichung ihres Volkes Thür
und Thor geöffnet. Auch nach Aristoteles tritt ein merklicher Rückschritt in
der reinen, d. h. wissenschaftlichen Philosophie ein, indem sich die Schulen
mit Vorliebe dem Aufbau der praktischen Philosophie zuwandten. Aber
trotzdem konnte der Fortschritt auf die Länge nicht aufgehalten, geschweige
zurückgestaut werden: der Idealismus war und blieb seit Socrates eine
eroberte Domäne, das philosophische Denken, das einmal durch die Griechen
vom dogmatisch-religiösen Bann befreit worden war, ist trotz dem Rückfall
des Mittelalters von ihm emanzipirt geblieben, und gestützt auf die granitene
Grundlage des aristotelischen Organon hat Kant seinen kritischen Riesenbau
aufgeführt. Er hat sich dabei durch die Autorität des großen griechischen
Denkers weder blenden noch binden lassen und ist über ihn hinausgegangen, wie
andere wieder über ihn selbst; erst einem neuen (sonst verdienstvollen) Phisosvphen
(Trendelenburg) war das unbegreifliche Dogma vorbehalten, daß die Philosophie
mit Aristoteles ihren Abschluß erreicht habe und ein Hinausgehen über dessen
System nicht möglich sei. Für einen großen Fortschritt muß es auch ange¬
sehen werden, daß die Philosophie durch Kant und theilweise auch seit Kant
sich bescheiden mit der Musterung ihres Inventars und Rüstzeuges abgab,
und prüfte, ob und wie weit sie im Besitz desselben zu Ausflügen in die unend¬
lichen Räume der Metaphysik befugt und gestählt sei. Die Bedingungen der
Möglichkeit des Erkennens bilden in der That seit Kant beinahe die ganze
Metaphysik der Neuern; statt der letzten Grenze der Dinge kann die Vernunft
bloß die Grenze ihres eigenen Vermögens erforschen, diese Wissenschaft aber
von der Grenze der Vernunft muß, wenn sie ehrlich ist, ihren Protest erheben
gegen die mechanisch-materialistische Anschauung unserer Tage, welche nicht
etwa übervernünftig, sondern vernunftwidrig ist und innerhalb
der Vernunftgrenze aä adsuräum geführt werden kann. Und so darf man
wohl behaupten, daß gegenüber der Anschauung eines Plato und Aristoteles,
welche eine mit vollendeter Zweckthätigkeit in der Natur wirkende Kraft an¬
nahmen, die moderne mechanische Auffassung ein Rückschritt sei, den allerdings
zum Glück unfruchtbare Philosophen weniger als die fruchtbaren Natur¬
forscher verschulden. Wenn man die allerneuste Philosophie, welche von nam¬
haften Vertretern der Naturwissenschaft (z. B. Häckel in Jena) vorgetragen
wird, prüft, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie nicht
bloß den Naturprozeß als einem stetigen Fortschritt unterworfen annehme,
sondern die schöpferische Kraft selber, so weit sie nämlich einer solchen zu be¬
dürfen glaubt, als unter diesem Weltgesetz stehend denke — mit andern Worten,
daß Gott selber, welchen bisher der gesunde Menschenverstand als das be¬
wirkende Subject des Fortschritts voraussetzte, nun plötzlich als eines
der Objecte desselben aufgefaßt werden müsse, woraus sich dann folge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/379>, abgerufen am 26.06.2024.