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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Empfindens nicht erklären können, daß es ins Reich des Bewußtseins
hinein keine materielle, d. h. mechanische Brücke gebe, daß der Sprung zwischen
den letzten materiellen Elementen, den Nerven, und dem Anfang des leisesten
Empfindens (von süß, Herd u. s. w.) unvermittelt bleibe -- wie steht es dann
mit der mechanischen Allmacht? Und warum denn um diesen letzten, aber
bedeutsamsten Rest zu erklären, lieber eine "unbegriffene Materie" an¬
nehmen als eine unbegriffene Schöpferkraft? Wenn die Physiker mit den An¬
fangs und Endursachen nichts anzufangen wissen, so sollen sie wenigstens be¬
scheiden sein und die Wissenschaft davon den MetaPhysikern überlassen.

Freilich ist die Philosophie bei den Naturforschern zur Zeit nicht eben
gut accreditirt; sie bestreiten gerade an ihr den Fo rtschritt und behaupten,
daß sie es trotz ihrer Fluth von wechselnden Systemen bislang zu keinen positiven
Resultaten gebracht habe; wo sie etwa über den Inhalt früherer Zeiten hin¬
ausgeschritten sei, da sei ihr dieß nur durch Verwerthung der naturwissen¬
schaftlichen Methode und der Ergebnisse auf dem Gebiete der Natur¬
forschung möglich geworden. Nun lösen sich allerdings die philosophischen
Systeme in rascher Folge ab, und zwar durchaus nicht immer so, daß eines
das andere ergänzte oder vertiefte, sondern sie tragen schroff den Charakter
des Kampfes und der Negation. Und dennoch ist jener Vorwurf im Großen
und Ganzen unstatthaft; es findet unverkennbar in Bezug auf Methode und
Resultate ein Fortschritt statt; es ist kein einziges, seiner Zeit bahnbrechendes
System ohne Ergebniß für Erweiterung des menschlichen Wissens geblieben.
Wir brauchen bloß den Entwicklungsgang der griechischen Philosophie bis
Socrates uns vorzustellen -- welch ungeheurer Fortschritt knüpft sich an die
Erscheinung dieses Mannes, der doch eigentlich bloß der praktischen d. h.
ethischen Philosophie zu Liebe seine Entdeckungen aus dem Gebiete des Be¬
griffs machte, dann aber, in der Weiterentwicklung dieser Lehre, welche
stetige Bereicherung und Vertiefung von ihm an durch Plato und Aristoteles!
Selbst den Sophisten kann ihr Ruhmestitel auf theoretischem Gebiete nicht ge¬
schmälert werden, wenn auch der durch sie gemachte Fortschritt bloß in der
Negation beruhte. Aber ein Fortschritt war es doch immerhin, gegenüber dem
guten Glauben ihrer Landsleute an die Wahrheit der Vorstellungen und an
die Möglichkeit des Wissens, den Zweifel ins Feld zu führen, den gleichen
Zweifel, welcher ja recht eigentlich der Vater unsern modernen Philosophie
seit Baco ist. Wie aber jeder Fortschritt auch wieder einen Rückschritt
im Gefolge hat, auch dafür liefern die Sophisten ein recht augenfälliges
Beispiel. Denn, indem sie die Sätze, daß man nichts wissen könne und daß
der Mensch das Maß aller Dinge sei, vom Gebiet der Erkenntniß übertrugen
auf das der Ethik, und den Menschen und dessen Belieben auch zum Maaß
des Gebotenen und Erlaubten, d. h. die Entscheidung darüber zum Gegenstand


Empfindens nicht erklären können, daß es ins Reich des Bewußtseins
hinein keine materielle, d. h. mechanische Brücke gebe, daß der Sprung zwischen
den letzten materiellen Elementen, den Nerven, und dem Anfang des leisesten
Empfindens (von süß, Herd u. s. w.) unvermittelt bleibe — wie steht es dann
mit der mechanischen Allmacht? Und warum denn um diesen letzten, aber
bedeutsamsten Rest zu erklären, lieber eine „unbegriffene Materie" an¬
nehmen als eine unbegriffene Schöpferkraft? Wenn die Physiker mit den An¬
fangs und Endursachen nichts anzufangen wissen, so sollen sie wenigstens be¬
scheiden sein und die Wissenschaft davon den MetaPhysikern überlassen.

Freilich ist die Philosophie bei den Naturforschern zur Zeit nicht eben
gut accreditirt; sie bestreiten gerade an ihr den Fo rtschritt und behaupten,
daß sie es trotz ihrer Fluth von wechselnden Systemen bislang zu keinen positiven
Resultaten gebracht habe; wo sie etwa über den Inhalt früherer Zeiten hin¬
ausgeschritten sei, da sei ihr dieß nur durch Verwerthung der naturwissen¬
schaftlichen Methode und der Ergebnisse auf dem Gebiete der Natur¬
forschung möglich geworden. Nun lösen sich allerdings die philosophischen
Systeme in rascher Folge ab, und zwar durchaus nicht immer so, daß eines
das andere ergänzte oder vertiefte, sondern sie tragen schroff den Charakter
des Kampfes und der Negation. Und dennoch ist jener Vorwurf im Großen
und Ganzen unstatthaft; es findet unverkennbar in Bezug auf Methode und
Resultate ein Fortschritt statt; es ist kein einziges, seiner Zeit bahnbrechendes
System ohne Ergebniß für Erweiterung des menschlichen Wissens geblieben.
Wir brauchen bloß den Entwicklungsgang der griechischen Philosophie bis
Socrates uns vorzustellen — welch ungeheurer Fortschritt knüpft sich an die
Erscheinung dieses Mannes, der doch eigentlich bloß der praktischen d. h.
ethischen Philosophie zu Liebe seine Entdeckungen aus dem Gebiete des Be¬
griffs machte, dann aber, in der Weiterentwicklung dieser Lehre, welche
stetige Bereicherung und Vertiefung von ihm an durch Plato und Aristoteles!
Selbst den Sophisten kann ihr Ruhmestitel auf theoretischem Gebiete nicht ge¬
schmälert werden, wenn auch der durch sie gemachte Fortschritt bloß in der
Negation beruhte. Aber ein Fortschritt war es doch immerhin, gegenüber dem
guten Glauben ihrer Landsleute an die Wahrheit der Vorstellungen und an
die Möglichkeit des Wissens, den Zweifel ins Feld zu führen, den gleichen
Zweifel, welcher ja recht eigentlich der Vater unsern modernen Philosophie
seit Baco ist. Wie aber jeder Fortschritt auch wieder einen Rückschritt
im Gefolge hat, auch dafür liefern die Sophisten ein recht augenfälliges
Beispiel. Denn, indem sie die Sätze, daß man nichts wissen könne und daß
der Mensch das Maß aller Dinge sei, vom Gebiet der Erkenntniß übertrugen
auf das der Ethik, und den Menschen und dessen Belieben auch zum Maaß
des Gebotenen und Erlaubten, d. h. die Entscheidung darüber zum Gegenstand


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[0378] Empfindens nicht erklären können, daß es ins Reich des Bewußtseins hinein keine materielle, d. h. mechanische Brücke gebe, daß der Sprung zwischen den letzten materiellen Elementen, den Nerven, und dem Anfang des leisesten Empfindens (von süß, Herd u. s. w.) unvermittelt bleibe — wie steht es dann mit der mechanischen Allmacht? Und warum denn um diesen letzten, aber bedeutsamsten Rest zu erklären, lieber eine „unbegriffene Materie" an¬ nehmen als eine unbegriffene Schöpferkraft? Wenn die Physiker mit den An¬ fangs und Endursachen nichts anzufangen wissen, so sollen sie wenigstens be¬ scheiden sein und die Wissenschaft davon den MetaPhysikern überlassen. Freilich ist die Philosophie bei den Naturforschern zur Zeit nicht eben gut accreditirt; sie bestreiten gerade an ihr den Fo rtschritt und behaupten, daß sie es trotz ihrer Fluth von wechselnden Systemen bislang zu keinen positiven Resultaten gebracht habe; wo sie etwa über den Inhalt früherer Zeiten hin¬ ausgeschritten sei, da sei ihr dieß nur durch Verwerthung der naturwissen¬ schaftlichen Methode und der Ergebnisse auf dem Gebiete der Natur¬ forschung möglich geworden. Nun lösen sich allerdings die philosophischen Systeme in rascher Folge ab, und zwar durchaus nicht immer so, daß eines das andere ergänzte oder vertiefte, sondern sie tragen schroff den Charakter des Kampfes und der Negation. Und dennoch ist jener Vorwurf im Großen und Ganzen unstatthaft; es findet unverkennbar in Bezug auf Methode und Resultate ein Fortschritt statt; es ist kein einziges, seiner Zeit bahnbrechendes System ohne Ergebniß für Erweiterung des menschlichen Wissens geblieben. Wir brauchen bloß den Entwicklungsgang der griechischen Philosophie bis Socrates uns vorzustellen — welch ungeheurer Fortschritt knüpft sich an die Erscheinung dieses Mannes, der doch eigentlich bloß der praktischen d. h. ethischen Philosophie zu Liebe seine Entdeckungen aus dem Gebiete des Be¬ griffs machte, dann aber, in der Weiterentwicklung dieser Lehre, welche stetige Bereicherung und Vertiefung von ihm an durch Plato und Aristoteles! Selbst den Sophisten kann ihr Ruhmestitel auf theoretischem Gebiete nicht ge¬ schmälert werden, wenn auch der durch sie gemachte Fortschritt bloß in der Negation beruhte. Aber ein Fortschritt war es doch immerhin, gegenüber dem guten Glauben ihrer Landsleute an die Wahrheit der Vorstellungen und an die Möglichkeit des Wissens, den Zweifel ins Feld zu führen, den gleichen Zweifel, welcher ja recht eigentlich der Vater unsern modernen Philosophie seit Baco ist. Wie aber jeder Fortschritt auch wieder einen Rückschritt im Gefolge hat, auch dafür liefern die Sophisten ein recht augenfälliges Beispiel. Denn, indem sie die Sätze, daß man nichts wissen könne und daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, vom Gebiet der Erkenntniß übertrugen auf das der Ethik, und den Menschen und dessen Belieben auch zum Maaß des Gebotenen und Erlaubten, d. h. die Entscheidung darüber zum Gegenstand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/378>, abgerufen am 26.06.2024.