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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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richtig das neue Dogma ergeben würde, daß bis auf weiteres der Fort¬
schritte selber in abstracto das höchste absolute Wesen sei; stattet man
dasselbe vollends mit der neuesten Entdeckung unsrer zeitgemäßen Philo¬
sophie, mit der Qualität des "Unbewußten" aus. so hätten wir es richtig
"innerhalb der Grenzen unserer Vernunft" so weit gebracht, Keil "unbewußten
Fortschritt" als eonstitutives Weltprinzip zu besitzen! -- Es kann nicht meine
Aufgabe sein, würde auch meine Kräfte bei weitem übersteigen, wollte ich
auch nur in den allgemeinsten Zügen die Fortschrittsstadien constatiren, welche
die einzelnen Künste und Wissenschaften in den Jahrhunderten ihrer Entwick¬
lung durchlaufen haben; es würden hier zwar auch Stillstände, beziehungsweise
Rückschritte zu verzeichnen sein, die Summe der Fortschritte aber, des positiv
Schritt für Schritt Hinzuerworbenen, würde die der Einbuße bei weitem über¬
steigen. Kein Vernünftiger kann dieß bezweifeln, der den Fortschritt als ein
oberstes Weltgesetz anerkennt. Und das muß er bei ehrlichem Nachdenken.
Ebenso wenig kann es einem Zweifel unterliegen, daß mit vermehrter Kennt¬
niß und Einsicht auch ein Wachsthum des materiellen Wohles der Menschheit
bedingt ist: Die Naturwissenschaften, um mit ihnen zu exemplifiziren, dürfen
mit vollem Recht Anspruch erheben auf den Ruhmestitel, mit der vermehrten
Einsicht in die Gesetze der Natur auch deren Kräfte zur Förderung mensch¬
licher Zwecke ausgebeutet zu haben; und da die Resultate jeder Geistesarbeit
einen theils mehr, theils weniger greifbaren Ertrag für das Wohl der Mensch¬
heit abwerfen, so ist jeder wissenschaftliche Fortschritt auch ein Glied in der
langen Fortschrittsreihe, an und mit welcher die Menschheit sich vorwärts,
ihrem Ziele entgegen, bewegt. Bon diesem Fortschritt allein, der als
Summe aller geistigen und materiellen Errungenschaften eine Generation nach
der andern stetig vorwärts schiebt, reden wir. Aber hier tritt uns sofort eine
ernste, ja furchtbare Wahrheit entgegen, die von den Fanatikern der Fort¬
schrittsidee nur zu oft übersehen wird: Wenn eine materielle Förderung
unserer Lebensbedingungen jeweilen aus der Werkstätte des denkenden Geistes
hervorgeht, so ist jene darum nicht sofort auch ein sittlicher Fortschritt, im
Gegentheil, wenn das Gefühl des sinnlichen Wohlbehagens zu mächtig schäumt,
so droht der Geist zu verfliegen; wem der Genuß in den Schooß fällt, ohne
daß er ihn mit Zusatz von Kraft und Geist erringen muß, den drückt er zur
Scholle nieder, "das Leben" (und zwar ein lebenswerthes Leben) "weiß nur
der zu schätzen, der täglich es erobern muß".

Ein Beispiel dafür bietet uns gerade unsere Zeit; das Gleichgewicht
zwischen dem geistigen und dem materiellen Gewinn ist gestört, von diesem
ist ein großer Ueberschuß vorhanden, welcher den Massen der Ungebildeten
(freilich auch leider vielen Gebildeten) den Kopf verwirrt und das Herz er¬
stickt. Natürlich, sie sind ja an den großen Fortschritten des Jahrhunderts


richtig das neue Dogma ergeben würde, daß bis auf weiteres der Fort¬
schritte selber in abstracto das höchste absolute Wesen sei; stattet man
dasselbe vollends mit der neuesten Entdeckung unsrer zeitgemäßen Philo¬
sophie, mit der Qualität des „Unbewußten" aus. so hätten wir es richtig
„innerhalb der Grenzen unserer Vernunft" so weit gebracht, Keil „unbewußten
Fortschritt" als eonstitutives Weltprinzip zu besitzen! — Es kann nicht meine
Aufgabe sein, würde auch meine Kräfte bei weitem übersteigen, wollte ich
auch nur in den allgemeinsten Zügen die Fortschrittsstadien constatiren, welche
die einzelnen Künste und Wissenschaften in den Jahrhunderten ihrer Entwick¬
lung durchlaufen haben; es würden hier zwar auch Stillstände, beziehungsweise
Rückschritte zu verzeichnen sein, die Summe der Fortschritte aber, des positiv
Schritt für Schritt Hinzuerworbenen, würde die der Einbuße bei weitem über¬
steigen. Kein Vernünftiger kann dieß bezweifeln, der den Fortschritt als ein
oberstes Weltgesetz anerkennt. Und das muß er bei ehrlichem Nachdenken.
Ebenso wenig kann es einem Zweifel unterliegen, daß mit vermehrter Kennt¬
niß und Einsicht auch ein Wachsthum des materiellen Wohles der Menschheit
bedingt ist: Die Naturwissenschaften, um mit ihnen zu exemplifiziren, dürfen
mit vollem Recht Anspruch erheben auf den Ruhmestitel, mit der vermehrten
Einsicht in die Gesetze der Natur auch deren Kräfte zur Förderung mensch¬
licher Zwecke ausgebeutet zu haben; und da die Resultate jeder Geistesarbeit
einen theils mehr, theils weniger greifbaren Ertrag für das Wohl der Mensch¬
heit abwerfen, so ist jeder wissenschaftliche Fortschritt auch ein Glied in der
langen Fortschrittsreihe, an und mit welcher die Menschheit sich vorwärts,
ihrem Ziele entgegen, bewegt. Bon diesem Fortschritt allein, der als
Summe aller geistigen und materiellen Errungenschaften eine Generation nach
der andern stetig vorwärts schiebt, reden wir. Aber hier tritt uns sofort eine
ernste, ja furchtbare Wahrheit entgegen, die von den Fanatikern der Fort¬
schrittsidee nur zu oft übersehen wird: Wenn eine materielle Förderung
unserer Lebensbedingungen jeweilen aus der Werkstätte des denkenden Geistes
hervorgeht, so ist jene darum nicht sofort auch ein sittlicher Fortschritt, im
Gegentheil, wenn das Gefühl des sinnlichen Wohlbehagens zu mächtig schäumt,
so droht der Geist zu verfliegen; wem der Genuß in den Schooß fällt, ohne
daß er ihn mit Zusatz von Kraft und Geist erringen muß, den drückt er zur
Scholle nieder, „das Leben" (und zwar ein lebenswerthes Leben) „weiß nur
der zu schätzen, der täglich es erobern muß".

Ein Beispiel dafür bietet uns gerade unsere Zeit; das Gleichgewicht
zwischen dem geistigen und dem materiellen Gewinn ist gestört, von diesem
ist ein großer Ueberschuß vorhanden, welcher den Massen der Ungebildeten
(freilich auch leider vielen Gebildeten) den Kopf verwirrt und das Herz er¬
stickt. Natürlich, sie sind ja an den großen Fortschritten des Jahrhunderts


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[0380] richtig das neue Dogma ergeben würde, daß bis auf weiteres der Fort¬ schritte selber in abstracto das höchste absolute Wesen sei; stattet man dasselbe vollends mit der neuesten Entdeckung unsrer zeitgemäßen Philo¬ sophie, mit der Qualität des „Unbewußten" aus. so hätten wir es richtig „innerhalb der Grenzen unserer Vernunft" so weit gebracht, Keil „unbewußten Fortschritt" als eonstitutives Weltprinzip zu besitzen! — Es kann nicht meine Aufgabe sein, würde auch meine Kräfte bei weitem übersteigen, wollte ich auch nur in den allgemeinsten Zügen die Fortschrittsstadien constatiren, welche die einzelnen Künste und Wissenschaften in den Jahrhunderten ihrer Entwick¬ lung durchlaufen haben; es würden hier zwar auch Stillstände, beziehungsweise Rückschritte zu verzeichnen sein, die Summe der Fortschritte aber, des positiv Schritt für Schritt Hinzuerworbenen, würde die der Einbuße bei weitem über¬ steigen. Kein Vernünftiger kann dieß bezweifeln, der den Fortschritt als ein oberstes Weltgesetz anerkennt. Und das muß er bei ehrlichem Nachdenken. Ebenso wenig kann es einem Zweifel unterliegen, daß mit vermehrter Kennt¬ niß und Einsicht auch ein Wachsthum des materiellen Wohles der Menschheit bedingt ist: Die Naturwissenschaften, um mit ihnen zu exemplifiziren, dürfen mit vollem Recht Anspruch erheben auf den Ruhmestitel, mit der vermehrten Einsicht in die Gesetze der Natur auch deren Kräfte zur Förderung mensch¬ licher Zwecke ausgebeutet zu haben; und da die Resultate jeder Geistesarbeit einen theils mehr, theils weniger greifbaren Ertrag für das Wohl der Mensch¬ heit abwerfen, so ist jeder wissenschaftliche Fortschritt auch ein Glied in der langen Fortschrittsreihe, an und mit welcher die Menschheit sich vorwärts, ihrem Ziele entgegen, bewegt. Bon diesem Fortschritt allein, der als Summe aller geistigen und materiellen Errungenschaften eine Generation nach der andern stetig vorwärts schiebt, reden wir. Aber hier tritt uns sofort eine ernste, ja furchtbare Wahrheit entgegen, die von den Fanatikern der Fort¬ schrittsidee nur zu oft übersehen wird: Wenn eine materielle Förderung unserer Lebensbedingungen jeweilen aus der Werkstätte des denkenden Geistes hervorgeht, so ist jene darum nicht sofort auch ein sittlicher Fortschritt, im Gegentheil, wenn das Gefühl des sinnlichen Wohlbehagens zu mächtig schäumt, so droht der Geist zu verfliegen; wem der Genuß in den Schooß fällt, ohne daß er ihn mit Zusatz von Kraft und Geist erringen muß, den drückt er zur Scholle nieder, „das Leben" (und zwar ein lebenswerthes Leben) „weiß nur der zu schätzen, der täglich es erobern muß". Ein Beispiel dafür bietet uns gerade unsere Zeit; das Gleichgewicht zwischen dem geistigen und dem materiellen Gewinn ist gestört, von diesem ist ein großer Ueberschuß vorhanden, welcher den Massen der Ungebildeten (freilich auch leider vielen Gebildeten) den Kopf verwirrt und das Herz er¬ stickt. Natürlich, sie sind ja an den großen Fortschritten des Jahrhunderts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/380>, abgerufen am 26.06.2024.