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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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bewußtes Streben, die Gruft mit erheuchelten, erlogenen Leben zu umspinnen.
Aber diese Aufgabe, die man der Wissenschaft stellen will, zerfällt zum Glück
vor den Augen des Zuschauers zu Staub und Moder, denn mit der Negation
jener Ideen, ohne welche ein Zweck des Lebens undenkbar wäre, muß auch
die Wissenschaft und jede Aufgabe einer solchen negirt werden; inmitten
einer absoluten Zwecklosigkeit kann der Wissenstrieb sich als Selbstzweck nicht
rechtfertigen; und wenn der Mensch nur durch eine ihm vorgeschwindelte Lüge
aus der Tiefe des "bestbeanlagten Raubthiers", welches er sein soll, zu der
Höhe des civilisirten Menschen emporgehoben werden kann, so lasse ma-n ihn in
Gottes Namen lieber da, wo er seiner ursprünglichen Anlage nach hingehören
soll, und gebe das Bischen Wissenschaft auf. Denn bloß zu wissen, daß
alles nichts ist, dessen wir uns bisher getröstet haben, mit Ausnahme einer
starren, gefühllosen Natur, das würde sich weder des Namens einer Wissen¬
schaft noch des Schweißes der Edlen verlohnen.

Den großartigsten Nachweis aber, daß eine fortschreitende Entwicklung
das oberste Weltgesetz sei, leistet die Schöpfungsgeschichte selber; und wenn die
Natur des Alls, wenigstens nach der materiellen, physischen Seite hin,
stufenweis zu immer vollkommeneren Zuständen vorschreitet, wenn sogar das
Unorganische unter dem Banner jenes Gesetzes steht, -- und es ist doch allen
erfahrbaren Zeugnissen gemäß erwiesen, daß der Weltprozeß vom weniger
Vollkommenen zum Vollkommenerer fortschritt und fortschreitet -- wie
sollte da ein einzelnes organisches Wesen, der Mensch, eine Ausnahme
machen können? Selbst wenn er durch einen neuen und spezifischen Schöpfungs¬
act in die Reihe der lebenden Wesen hineingesetzt wurde, so bildet er, ja
gerade dann, in der Kette der Schöpfungsacte einen ungeheuren Fortschritt
gegenüber seinen Borgängern. Bekanntlich hat eine Richtung der neueren
Naturforschung und Naturphilosophie jenes Entwicklungsgesetz rückwärts gegen
seine Anfänge hin zu verfolgen gesucht und ist dabei zu Stadien gelangt, wo
dem guten Menschen, der bisher im felsenfesten Glauben an seine Gottähn¬
lichkeit sich schlafen gelegt hatte, auf einmal bange ward um sein Anrecht
an ursprünglicher Priorität vor allem dem, was da kreucht und fleugt. Un¬
beirrt durch das theologische Veto und durch das Auflehnen des religiösen
Gefühls macht jene Theorie Riesenfortschritte, nicht bloß unter den Männern
vom Fach, sondern auch unter dem Laienpublikum -- recht zum Beweis,
wie die Idee des Fortschrittes einem unbefangenen Denken adäquat ist. Ich
fühle natürlich, als vollständiger Laie, nicht den mindesten Beruf, in diesem
speciellen Fall für oder wider die Lamarck - Darwinschen Theorien und
deren Consequenzen mich zu entscheiden -- meine Stimme würde auch mit
Recht Gegnern wie Freunden derselben höchst gleichgiltig sein -- ich constatire
hier bloß, daß wenigstens die Descendenztheorie, die übrigens schon vor den


bewußtes Streben, die Gruft mit erheuchelten, erlogenen Leben zu umspinnen.
Aber diese Aufgabe, die man der Wissenschaft stellen will, zerfällt zum Glück
vor den Augen des Zuschauers zu Staub und Moder, denn mit der Negation
jener Ideen, ohne welche ein Zweck des Lebens undenkbar wäre, muß auch
die Wissenschaft und jede Aufgabe einer solchen negirt werden; inmitten
einer absoluten Zwecklosigkeit kann der Wissenstrieb sich als Selbstzweck nicht
rechtfertigen; und wenn der Mensch nur durch eine ihm vorgeschwindelte Lüge
aus der Tiefe des „bestbeanlagten Raubthiers", welches er sein soll, zu der
Höhe des civilisirten Menschen emporgehoben werden kann, so lasse ma-n ihn in
Gottes Namen lieber da, wo er seiner ursprünglichen Anlage nach hingehören
soll, und gebe das Bischen Wissenschaft auf. Denn bloß zu wissen, daß
alles nichts ist, dessen wir uns bisher getröstet haben, mit Ausnahme einer
starren, gefühllosen Natur, das würde sich weder des Namens einer Wissen¬
schaft noch des Schweißes der Edlen verlohnen.

Den großartigsten Nachweis aber, daß eine fortschreitende Entwicklung
das oberste Weltgesetz sei, leistet die Schöpfungsgeschichte selber; und wenn die
Natur des Alls, wenigstens nach der materiellen, physischen Seite hin,
stufenweis zu immer vollkommeneren Zuständen vorschreitet, wenn sogar das
Unorganische unter dem Banner jenes Gesetzes steht, — und es ist doch allen
erfahrbaren Zeugnissen gemäß erwiesen, daß der Weltprozeß vom weniger
Vollkommenen zum Vollkommenerer fortschritt und fortschreitet — wie
sollte da ein einzelnes organisches Wesen, der Mensch, eine Ausnahme
machen können? Selbst wenn er durch einen neuen und spezifischen Schöpfungs¬
act in die Reihe der lebenden Wesen hineingesetzt wurde, so bildet er, ja
gerade dann, in der Kette der Schöpfungsacte einen ungeheuren Fortschritt
gegenüber seinen Borgängern. Bekanntlich hat eine Richtung der neueren
Naturforschung und Naturphilosophie jenes Entwicklungsgesetz rückwärts gegen
seine Anfänge hin zu verfolgen gesucht und ist dabei zu Stadien gelangt, wo
dem guten Menschen, der bisher im felsenfesten Glauben an seine Gottähn¬
lichkeit sich schlafen gelegt hatte, auf einmal bange ward um sein Anrecht
an ursprünglicher Priorität vor allem dem, was da kreucht und fleugt. Un¬
beirrt durch das theologische Veto und durch das Auflehnen des religiösen
Gefühls macht jene Theorie Riesenfortschritte, nicht bloß unter den Männern
vom Fach, sondern auch unter dem Laienpublikum — recht zum Beweis,
wie die Idee des Fortschrittes einem unbefangenen Denken adäquat ist. Ich
fühle natürlich, als vollständiger Laie, nicht den mindesten Beruf, in diesem
speciellen Fall für oder wider die Lamarck - Darwinschen Theorien und
deren Consequenzen mich zu entscheiden — meine Stimme würde auch mit
Recht Gegnern wie Freunden derselben höchst gleichgiltig sein — ich constatire
hier bloß, daß wenigstens die Descendenztheorie, die übrigens schon vor den


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[0376] bewußtes Streben, die Gruft mit erheuchelten, erlogenen Leben zu umspinnen. Aber diese Aufgabe, die man der Wissenschaft stellen will, zerfällt zum Glück vor den Augen des Zuschauers zu Staub und Moder, denn mit der Negation jener Ideen, ohne welche ein Zweck des Lebens undenkbar wäre, muß auch die Wissenschaft und jede Aufgabe einer solchen negirt werden; inmitten einer absoluten Zwecklosigkeit kann der Wissenstrieb sich als Selbstzweck nicht rechtfertigen; und wenn der Mensch nur durch eine ihm vorgeschwindelte Lüge aus der Tiefe des „bestbeanlagten Raubthiers", welches er sein soll, zu der Höhe des civilisirten Menschen emporgehoben werden kann, so lasse ma-n ihn in Gottes Namen lieber da, wo er seiner ursprünglichen Anlage nach hingehören soll, und gebe das Bischen Wissenschaft auf. Denn bloß zu wissen, daß alles nichts ist, dessen wir uns bisher getröstet haben, mit Ausnahme einer starren, gefühllosen Natur, das würde sich weder des Namens einer Wissen¬ schaft noch des Schweißes der Edlen verlohnen. Den großartigsten Nachweis aber, daß eine fortschreitende Entwicklung das oberste Weltgesetz sei, leistet die Schöpfungsgeschichte selber; und wenn die Natur des Alls, wenigstens nach der materiellen, physischen Seite hin, stufenweis zu immer vollkommeneren Zuständen vorschreitet, wenn sogar das Unorganische unter dem Banner jenes Gesetzes steht, — und es ist doch allen erfahrbaren Zeugnissen gemäß erwiesen, daß der Weltprozeß vom weniger Vollkommenen zum Vollkommenerer fortschritt und fortschreitet — wie sollte da ein einzelnes organisches Wesen, der Mensch, eine Ausnahme machen können? Selbst wenn er durch einen neuen und spezifischen Schöpfungs¬ act in die Reihe der lebenden Wesen hineingesetzt wurde, so bildet er, ja gerade dann, in der Kette der Schöpfungsacte einen ungeheuren Fortschritt gegenüber seinen Borgängern. Bekanntlich hat eine Richtung der neueren Naturforschung und Naturphilosophie jenes Entwicklungsgesetz rückwärts gegen seine Anfänge hin zu verfolgen gesucht und ist dabei zu Stadien gelangt, wo dem guten Menschen, der bisher im felsenfesten Glauben an seine Gottähn¬ lichkeit sich schlafen gelegt hatte, auf einmal bange ward um sein Anrecht an ursprünglicher Priorität vor allem dem, was da kreucht und fleugt. Un¬ beirrt durch das theologische Veto und durch das Auflehnen des religiösen Gefühls macht jene Theorie Riesenfortschritte, nicht bloß unter den Männern vom Fach, sondern auch unter dem Laienpublikum — recht zum Beweis, wie die Idee des Fortschrittes einem unbefangenen Denken adäquat ist. Ich fühle natürlich, als vollständiger Laie, nicht den mindesten Beruf, in diesem speciellen Fall für oder wider die Lamarck - Darwinschen Theorien und deren Consequenzen mich zu entscheiden — meine Stimme würde auch mit Recht Gegnern wie Freunden derselben höchst gleichgiltig sein — ich constatire hier bloß, daß wenigstens die Descendenztheorie, die übrigens schon vor den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/376>, abgerufen am 26.06.2024.