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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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geleugnet. Auch für Hegel ist, wenigstens auf einem und zwar einem sehr
wichtigen Gebiet menschlicher Existenzbedingung, das Ende der Entwicklung,
also des Fortschritts, gekommen -- er sah die staatlichen Zustände der
Restauration als das non plus ultra der erreichbaren Vollkommenheit an.
Bekanntlich ist auch noch in diesem Jahrhundert von frühern, mit hoher
Weisheit begabten Urvölkern geträumt worden (Creuzer und Schelling); den
vereinigten Wissenschaften der vergleichenden Sprachforschung, der Mythologie,
Ethnologie, Archäologie und Anthropologie ist es aber nicht schwer geworden,
dieses Wahngebilde aufzulösen. Wer aber die Geschichte der Cultur, so weit
sie uns bekannt ist, mit unbefangenem Blicke durchgeht, kann nicht anders,
als großartige Fortschrittsetappen anerkennen. Was wußten die Griechen
von Menschenrechten? Jetzt bilden diese die evnclitio sine yua, von jeder Ge¬
setzgebung; die Aufhebung der Sklaverei, der Leibeigenschaft, die Freiheit des
Grundeigenthums, der Gewerbe, des Glaubens sind Errungenschaften, welche
erst auf dem Wege des heftigsten, durch Jahrhunderte fortgesetzten Kampfes
und oft unter Strömen Blutes mußten gewonnen werden, und es sind doch
hoffentlich nicht bloß sociale, es sind auch rechtliche, es sind sittliche Ideen.
Die Gesellschaft selber, mit ihrer großartigen, alle menschlichen Interessen
fördernden Organisations- und Arbeitskraft, ist etwas Neues und sie
bedarf zu ihrem Bestände einer ebenbürtigen Stellung des Weibes, sie
bedarf der allgemeinen Erziehungspflicht, sie bedarf der Toleranz. Wer
wollte behaupten, dieser Zuwachs neuer, weltgestaltender Ideen rühre bloß
von der fortgeschrittenen Intelligenz her und habe mit der Vertiefung der
Sittlichkeit nichts zu thun? Ohne in den focratischen Standpunkt zurückzu¬
fallen, für welchen die Tugend im Wissen besteht, darf man zuversichtlich
behaupten, daß die höchste Moralität, wenn auch nicht bei jedem Einzelnen,
so doch in ihrer Gesammtentwickelung nur im Bunde mit der höchsten Intel¬
ligenz denkbar ist, und daß diese es ist. welche auf den letzten und heiligsten
Tafeln des Sittengesetzes den Griffel führt. Freilich, wir haben in unserer
Zeit eine "Culturgeschichte" erlebt (von Hello alt), welche mit dem zugege¬
benen Fortschritt ein eigenthümliches Sittengesetz sich entwickeln läßt, ein
Sittengesetz, wie es unsittlicher kaum gedacht werden kann. Es steht,
mitsammt dem Fortschritte, im Dienst der Lüge. Nach dieser Auffassung
nämlich soll es Aufgabe der Wissenschaft sein, "alle Ideale zu zerstören" und
"zu zeigen, daß Gottesglaube und Religion Trug, daß Sittlichkeit, Gleich¬
heit, Freiheit, Menschenrechte und Liebe Lügen sind", zugleich aber auch
Aufgabe, die Nothwendigkeit aller jener Ideale für die Entwickelung der
Cultur zu zeigen." -- Das ist ein Standpunkt, der an Trostlosigkeit den
schauerlichsten Pessimismus noch weit überragt. Dieser ist doch bloß unheim¬
lich durch seine passive Grabesstille, jener aber geradezu verwerflich durch sein


geleugnet. Auch für Hegel ist, wenigstens auf einem und zwar einem sehr
wichtigen Gebiet menschlicher Existenzbedingung, das Ende der Entwicklung,
also des Fortschritts, gekommen — er sah die staatlichen Zustände der
Restauration als das non plus ultra der erreichbaren Vollkommenheit an.
Bekanntlich ist auch noch in diesem Jahrhundert von frühern, mit hoher
Weisheit begabten Urvölkern geträumt worden (Creuzer und Schelling); den
vereinigten Wissenschaften der vergleichenden Sprachforschung, der Mythologie,
Ethnologie, Archäologie und Anthropologie ist es aber nicht schwer geworden,
dieses Wahngebilde aufzulösen. Wer aber die Geschichte der Cultur, so weit
sie uns bekannt ist, mit unbefangenem Blicke durchgeht, kann nicht anders,
als großartige Fortschrittsetappen anerkennen. Was wußten die Griechen
von Menschenrechten? Jetzt bilden diese die evnclitio sine yua, von jeder Ge¬
setzgebung; die Aufhebung der Sklaverei, der Leibeigenschaft, die Freiheit des
Grundeigenthums, der Gewerbe, des Glaubens sind Errungenschaften, welche
erst auf dem Wege des heftigsten, durch Jahrhunderte fortgesetzten Kampfes
und oft unter Strömen Blutes mußten gewonnen werden, und es sind doch
hoffentlich nicht bloß sociale, es sind auch rechtliche, es sind sittliche Ideen.
Die Gesellschaft selber, mit ihrer großartigen, alle menschlichen Interessen
fördernden Organisations- und Arbeitskraft, ist etwas Neues und sie
bedarf zu ihrem Bestände einer ebenbürtigen Stellung des Weibes, sie
bedarf der allgemeinen Erziehungspflicht, sie bedarf der Toleranz. Wer
wollte behaupten, dieser Zuwachs neuer, weltgestaltender Ideen rühre bloß
von der fortgeschrittenen Intelligenz her und habe mit der Vertiefung der
Sittlichkeit nichts zu thun? Ohne in den focratischen Standpunkt zurückzu¬
fallen, für welchen die Tugend im Wissen besteht, darf man zuversichtlich
behaupten, daß die höchste Moralität, wenn auch nicht bei jedem Einzelnen,
so doch in ihrer Gesammtentwickelung nur im Bunde mit der höchsten Intel¬
ligenz denkbar ist, und daß diese es ist. welche auf den letzten und heiligsten
Tafeln des Sittengesetzes den Griffel führt. Freilich, wir haben in unserer
Zeit eine „Culturgeschichte" erlebt (von Hello alt), welche mit dem zugege¬
benen Fortschritt ein eigenthümliches Sittengesetz sich entwickeln läßt, ein
Sittengesetz, wie es unsittlicher kaum gedacht werden kann. Es steht,
mitsammt dem Fortschritte, im Dienst der Lüge. Nach dieser Auffassung
nämlich soll es Aufgabe der Wissenschaft sein, „alle Ideale zu zerstören" und
„zu zeigen, daß Gottesglaube und Religion Trug, daß Sittlichkeit, Gleich¬
heit, Freiheit, Menschenrechte und Liebe Lügen sind", zugleich aber auch
Aufgabe, die Nothwendigkeit aller jener Ideale für die Entwickelung der
Cultur zu zeigen." — Das ist ein Standpunkt, der an Trostlosigkeit den
schauerlichsten Pessimismus noch weit überragt. Dieser ist doch bloß unheim¬
lich durch seine passive Grabesstille, jener aber geradezu verwerflich durch sein


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[0375] geleugnet. Auch für Hegel ist, wenigstens auf einem und zwar einem sehr wichtigen Gebiet menschlicher Existenzbedingung, das Ende der Entwicklung, also des Fortschritts, gekommen — er sah die staatlichen Zustände der Restauration als das non plus ultra der erreichbaren Vollkommenheit an. Bekanntlich ist auch noch in diesem Jahrhundert von frühern, mit hoher Weisheit begabten Urvölkern geträumt worden (Creuzer und Schelling); den vereinigten Wissenschaften der vergleichenden Sprachforschung, der Mythologie, Ethnologie, Archäologie und Anthropologie ist es aber nicht schwer geworden, dieses Wahngebilde aufzulösen. Wer aber die Geschichte der Cultur, so weit sie uns bekannt ist, mit unbefangenem Blicke durchgeht, kann nicht anders, als großartige Fortschrittsetappen anerkennen. Was wußten die Griechen von Menschenrechten? Jetzt bilden diese die evnclitio sine yua, von jeder Ge¬ setzgebung; die Aufhebung der Sklaverei, der Leibeigenschaft, die Freiheit des Grundeigenthums, der Gewerbe, des Glaubens sind Errungenschaften, welche erst auf dem Wege des heftigsten, durch Jahrhunderte fortgesetzten Kampfes und oft unter Strömen Blutes mußten gewonnen werden, und es sind doch hoffentlich nicht bloß sociale, es sind auch rechtliche, es sind sittliche Ideen. Die Gesellschaft selber, mit ihrer großartigen, alle menschlichen Interessen fördernden Organisations- und Arbeitskraft, ist etwas Neues und sie bedarf zu ihrem Bestände einer ebenbürtigen Stellung des Weibes, sie bedarf der allgemeinen Erziehungspflicht, sie bedarf der Toleranz. Wer wollte behaupten, dieser Zuwachs neuer, weltgestaltender Ideen rühre bloß von der fortgeschrittenen Intelligenz her und habe mit der Vertiefung der Sittlichkeit nichts zu thun? Ohne in den focratischen Standpunkt zurückzu¬ fallen, für welchen die Tugend im Wissen besteht, darf man zuversichtlich behaupten, daß die höchste Moralität, wenn auch nicht bei jedem Einzelnen, so doch in ihrer Gesammtentwickelung nur im Bunde mit der höchsten Intel¬ ligenz denkbar ist, und daß diese es ist. welche auf den letzten und heiligsten Tafeln des Sittengesetzes den Griffel führt. Freilich, wir haben in unserer Zeit eine „Culturgeschichte" erlebt (von Hello alt), welche mit dem zugege¬ benen Fortschritt ein eigenthümliches Sittengesetz sich entwickeln läßt, ein Sittengesetz, wie es unsittlicher kaum gedacht werden kann. Es steht, mitsammt dem Fortschritte, im Dienst der Lüge. Nach dieser Auffassung nämlich soll es Aufgabe der Wissenschaft sein, „alle Ideale zu zerstören" und „zu zeigen, daß Gottesglaube und Religion Trug, daß Sittlichkeit, Gleich¬ heit, Freiheit, Menschenrechte und Liebe Lügen sind", zugleich aber auch Aufgabe, die Nothwendigkeit aller jener Ideale für die Entwickelung der Cultur zu zeigen." — Das ist ein Standpunkt, der an Trostlosigkeit den schauerlichsten Pessimismus noch weit überragt. Dieser ist doch bloß unheim¬ lich durch seine passive Grabesstille, jener aber geradezu verwerflich durch sein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/375>, abgerufen am 26.06.2024.