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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Fortschritt in der Entwicklung des Menschengeschlechtes sei. Wir wollen
gleich in mvÄiam iem. Der letzte, d. h. der jüngste Krieg hat wahrlich
Stoff zu fortschrittlichen Betrachtungen in Hülle und Fülle gegeben; es hat
gehaust am Webstuhl, wie noch nie, und das endlich aus vielen Stoffen Zu¬
sammengewobene erwies sich als ein staunenswürdiges Wer5 Soll also dieser
Krieg als ein Markstein des Fortschritts bezeichnet werden? Kann das ein
Krieg überhaupt? Schon hier stehen wir vor einer doppelten Antwort, einer
bejahenden und einer verneinenden: die Sieger zuvörderst werden bejahen;
denn unser Gewinnst, werden sie sagen, übersteigt die Einbuße bei weitem;
seinen Weg nahm zwar dieser Fortschritt über blutige Schlachtfelder und auf-
gethürmte Menschenleichen und in seinem Gefolge hatte er Schmerz und Ver¬
zweiflung ; aber das ist eben das Wesen des Fortschritts, daß er einen hohen
Kaufpreis, und wär's auch Blutgeld, verlangt; jedem Fortschritt auf der Ferse
folgt der Rückschritt, der die Speichen des Siegeswagens für Augenblicke zu¬
rückdrängt, damit sie ihren Lauf mit beschleunigter Schnelligkeit fortsetzen! --
Andere dagegen, Freunde der Menschheit, werden sagen: "Von unserem
menschlichen, nicht eng nationalen Standpunkt aus erheben wir unser Veto
gegen den Fortschrittshymnus. Mag für den Sieger der Ruck nach vorn
auch bedeutend, ja über alles Erwarten groß sein, -- die Menschheit als
Ganzes hat nichts davon, sie ist um Jahrzehnte wieder zurückgeschleudert.
Der ethische Nachtheil dieses männer- und ideenmordenden Krieges, in
welchem zwei Culturvölker (das eine allerdings gezwungen) bewiesen haben,
daß das Menschenleben und das Familienglück nichts, die Obmacht und der
Nationalstolz alles gilt, ist so ungeheuer für das Allgemeine, daß der po¬
litische Vortheil auf der Wagschaale federleicht in die Höhe schnellt. Der
Krieg ist überhaupt ein solcher Wiederspruch gegen die Humanität, deren
Förderung jeder Fortschritt anstrebt, daß auch der Fortschritt keinen größern
Feind kennt als eben ihn, und das Schwert, welches im Kriege gezogen wird,
ist, ob auch siegreich, das Henkerschwert der Ideen von der Menschenwürde
und der Menschenliebe; ein Jahrhundert, welches mit der einen Hand alle
möglichen Werke der Humanität stiftet, mit der andern das Schlachtschwert
schwingt, verfällt durch diesen Widerstreit, dessen eine Seite doch Heuchelei
sein muß, der Verachtung und kann im Buch der Weltgeschichte nicht als
fortschrittlich verzeichnet werden." -- Wer hat hier Recht? Es muß doch
etwas Wahres sein an dem alten Ausspruch des schon oben erwähnten Weisen,
daß der Krieg der Vater der Dinge sei. und ist der "Kampf ums Dasein",
welchem nach neueren Anschauungen im Haushalt der Natur eine so überaus
wichtige Rolle zugetheilt ist, etwas Anderes als ein beständiger, bald unsicht¬
bar schleichender, bald sichtbar auftretender Krieg? Kann der Mensch allein
diesem die ganze organische Natur beherrschenden Gesetz nicht unterstellt sein?


Fortschritt in der Entwicklung des Menschengeschlechtes sei. Wir wollen
gleich in mvÄiam iem. Der letzte, d. h. der jüngste Krieg hat wahrlich
Stoff zu fortschrittlichen Betrachtungen in Hülle und Fülle gegeben; es hat
gehaust am Webstuhl, wie noch nie, und das endlich aus vielen Stoffen Zu¬
sammengewobene erwies sich als ein staunenswürdiges Wer5 Soll also dieser
Krieg als ein Markstein des Fortschritts bezeichnet werden? Kann das ein
Krieg überhaupt? Schon hier stehen wir vor einer doppelten Antwort, einer
bejahenden und einer verneinenden: die Sieger zuvörderst werden bejahen;
denn unser Gewinnst, werden sie sagen, übersteigt die Einbuße bei weitem;
seinen Weg nahm zwar dieser Fortschritt über blutige Schlachtfelder und auf-
gethürmte Menschenleichen und in seinem Gefolge hatte er Schmerz und Ver¬
zweiflung ; aber das ist eben das Wesen des Fortschritts, daß er einen hohen
Kaufpreis, und wär's auch Blutgeld, verlangt; jedem Fortschritt auf der Ferse
folgt der Rückschritt, der die Speichen des Siegeswagens für Augenblicke zu¬
rückdrängt, damit sie ihren Lauf mit beschleunigter Schnelligkeit fortsetzen! —
Andere dagegen, Freunde der Menschheit, werden sagen: „Von unserem
menschlichen, nicht eng nationalen Standpunkt aus erheben wir unser Veto
gegen den Fortschrittshymnus. Mag für den Sieger der Ruck nach vorn
auch bedeutend, ja über alles Erwarten groß sein, — die Menschheit als
Ganzes hat nichts davon, sie ist um Jahrzehnte wieder zurückgeschleudert.
Der ethische Nachtheil dieses männer- und ideenmordenden Krieges, in
welchem zwei Culturvölker (das eine allerdings gezwungen) bewiesen haben,
daß das Menschenleben und das Familienglück nichts, die Obmacht und der
Nationalstolz alles gilt, ist so ungeheuer für das Allgemeine, daß der po¬
litische Vortheil auf der Wagschaale federleicht in die Höhe schnellt. Der
Krieg ist überhaupt ein solcher Wiederspruch gegen die Humanität, deren
Förderung jeder Fortschritt anstrebt, daß auch der Fortschritt keinen größern
Feind kennt als eben ihn, und das Schwert, welches im Kriege gezogen wird,
ist, ob auch siegreich, das Henkerschwert der Ideen von der Menschenwürde
und der Menschenliebe; ein Jahrhundert, welches mit der einen Hand alle
möglichen Werke der Humanität stiftet, mit der andern das Schlachtschwert
schwingt, verfällt durch diesen Widerstreit, dessen eine Seite doch Heuchelei
sein muß, der Verachtung und kann im Buch der Weltgeschichte nicht als
fortschrittlich verzeichnet werden." — Wer hat hier Recht? Es muß doch
etwas Wahres sein an dem alten Ausspruch des schon oben erwähnten Weisen,
daß der Krieg der Vater der Dinge sei. und ist der „Kampf ums Dasein",
welchem nach neueren Anschauungen im Haushalt der Natur eine so überaus
wichtige Rolle zugetheilt ist, etwas Anderes als ein beständiger, bald unsicht¬
bar schleichender, bald sichtbar auftretender Krieg? Kann der Mensch allein
diesem die ganze organische Natur beherrschenden Gesetz nicht unterstellt sein?


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[0371] Fortschritt in der Entwicklung des Menschengeschlechtes sei. Wir wollen gleich in mvÄiam iem. Der letzte, d. h. der jüngste Krieg hat wahrlich Stoff zu fortschrittlichen Betrachtungen in Hülle und Fülle gegeben; es hat gehaust am Webstuhl, wie noch nie, und das endlich aus vielen Stoffen Zu¬ sammengewobene erwies sich als ein staunenswürdiges Wer5 Soll also dieser Krieg als ein Markstein des Fortschritts bezeichnet werden? Kann das ein Krieg überhaupt? Schon hier stehen wir vor einer doppelten Antwort, einer bejahenden und einer verneinenden: die Sieger zuvörderst werden bejahen; denn unser Gewinnst, werden sie sagen, übersteigt die Einbuße bei weitem; seinen Weg nahm zwar dieser Fortschritt über blutige Schlachtfelder und auf- gethürmte Menschenleichen und in seinem Gefolge hatte er Schmerz und Ver¬ zweiflung ; aber das ist eben das Wesen des Fortschritts, daß er einen hohen Kaufpreis, und wär's auch Blutgeld, verlangt; jedem Fortschritt auf der Ferse folgt der Rückschritt, der die Speichen des Siegeswagens für Augenblicke zu¬ rückdrängt, damit sie ihren Lauf mit beschleunigter Schnelligkeit fortsetzen! — Andere dagegen, Freunde der Menschheit, werden sagen: „Von unserem menschlichen, nicht eng nationalen Standpunkt aus erheben wir unser Veto gegen den Fortschrittshymnus. Mag für den Sieger der Ruck nach vorn auch bedeutend, ja über alles Erwarten groß sein, — die Menschheit als Ganzes hat nichts davon, sie ist um Jahrzehnte wieder zurückgeschleudert. Der ethische Nachtheil dieses männer- und ideenmordenden Krieges, in welchem zwei Culturvölker (das eine allerdings gezwungen) bewiesen haben, daß das Menschenleben und das Familienglück nichts, die Obmacht und der Nationalstolz alles gilt, ist so ungeheuer für das Allgemeine, daß der po¬ litische Vortheil auf der Wagschaale federleicht in die Höhe schnellt. Der Krieg ist überhaupt ein solcher Wiederspruch gegen die Humanität, deren Förderung jeder Fortschritt anstrebt, daß auch der Fortschritt keinen größern Feind kennt als eben ihn, und das Schwert, welches im Kriege gezogen wird, ist, ob auch siegreich, das Henkerschwert der Ideen von der Menschenwürde und der Menschenliebe; ein Jahrhundert, welches mit der einen Hand alle möglichen Werke der Humanität stiftet, mit der andern das Schlachtschwert schwingt, verfällt durch diesen Widerstreit, dessen eine Seite doch Heuchelei sein muß, der Verachtung und kann im Buch der Weltgeschichte nicht als fortschrittlich verzeichnet werden." — Wer hat hier Recht? Es muß doch etwas Wahres sein an dem alten Ausspruch des schon oben erwähnten Weisen, daß der Krieg der Vater der Dinge sei. und ist der „Kampf ums Dasein", welchem nach neueren Anschauungen im Haushalt der Natur eine so überaus wichtige Rolle zugetheilt ist, etwas Anderes als ein beständiger, bald unsicht¬ bar schleichender, bald sichtbar auftretender Krieg? Kann der Mensch allein diesem die ganze organische Natur beherrschenden Gesetz nicht unterstellt sein?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/371>, abgerufen am 26.06.2024.