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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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besonders den Genossen des laufenden Jahrhunderts mit siegender Gewißheit
aufdrängen muß, weil jetzt die Jahrzehnte mit derselben vollgültigen Kraft
sie bezeugen, wie früher die Jahrhunderte, ist etwa auch als die Zickzacktheorie
bekannt; zu Grunde liegt ihr, man mag sie nennen wie man will, die Idee
eines stetigen Fortschrittes in der Entwicklung des Menschengeschlechtes.
Der Fortschritt ist. wie uns die bloße Zeitungslectüre über Gebühr belehren
kann, zum Stich- und Schlagwort unserer Zeit geworden, das heißt, recht
eigentlich zur schneidigen Waffe, welche von Gerechten und Ungerechten ge¬
schwungen wird, um den ganzen Chorus der retardirenden Gewalten oder
was man als solche ansieht aus dem Felde zu schlagen. Der Fortschritt
ist die Signatur des Jahrhunderts, und wer es leugnet, muß wenigstens das
zugeben, daß das Anrufen desselben und das Sichberufen auf ihn zur üb¬
lichsten verbreitetsten Parole geworden ist. Man mag sie bekämpfen, als
irrig oder als traurig, ignoriren aber, als unwichtig oder ohnmächtig, darf
sie keiner, der seiner Zeit und der Menschheit ehrlich ins Auge zu blicken
wagt; denn an'es als bloße Parole ist der Fortschritt eine Macht, die man
nicht unterschätzen darf. Ich sehe nicht ein, was uns abhalten könnte, dieser
viel gebrauchten und viel mißbrauchten Idee des Fortschrittes einmal den
Puls zu fühlen, sie vor unser Forum zu citiren und sie um ihre Legitimation
zu ersuchen; höchstens die Unzulänglichkeit meiner Mittel gegenüber der
Größe der Aufgabe. Denn, was letztere betrifft, so will ich mir die Sache
nicht eben leichter machen durch Beschränkung der Diagnose auf ein bestimm¬
tes Gebiet, etwa auf das einer Fachwissenschaft, sondern ich will von dem
Fortschritt überhaupt sprechen, daß heißt vom Fortschreiten zum
Bessern, wie es auf allen Gebieten, wo menschliche Interessen zu vertreten
sind, auf dem kirchlichen wie dem staatlichen, dem wissenschaftlichen, wie dem
bürgerlichen sichtbar ist. "Ein kühnes Unterfangen", wird mancher viel¬
leicht denken, und doch fühle ich mich, wenn auch nicht an meinem Platz,
fo doch in meinem Recht; gegen den Vorwurf der Unbescheidenheit aber glaube
ich dadurch geschützt zu sein, daß ich nur die allgemeinsten, markirtesten und
jedem aufmerksamen Beobachter in die Augen fallenden Züge des Riesenbildes
andeute. Mehr bedarf es'auch nicht; und es wird nicht bloß einem Philo¬
sophen von Fach, es wird hoffentlich auch einem schlichten Menschenkind, das
seine offenen Sinne hat, erlaubt sein, von dem, was ihm tagtäglich um die
Ohren schwirrt und in die Augen fällt, seinen Eindruck zu empfangen und --
wiederzugeben. Wer von dem "sausenden Webstuhl der Zeit" gehört hat,
darf sich billig fragen, was denn da eigentlich gewoben werde, ob immer nur
in langweiliger Einförmigkeit das alte endlose Garn, oder ob nicht vielleicht
zu Zeiten der Einschlag, Zettel oder beides zugleich ganz anderen Stoffes, und
das Sausen ein viel mächtigeres als vordem, und ob beides mit einander ein


besonders den Genossen des laufenden Jahrhunderts mit siegender Gewißheit
aufdrängen muß, weil jetzt die Jahrzehnte mit derselben vollgültigen Kraft
sie bezeugen, wie früher die Jahrhunderte, ist etwa auch als die Zickzacktheorie
bekannt; zu Grunde liegt ihr, man mag sie nennen wie man will, die Idee
eines stetigen Fortschrittes in der Entwicklung des Menschengeschlechtes.
Der Fortschritt ist. wie uns die bloße Zeitungslectüre über Gebühr belehren
kann, zum Stich- und Schlagwort unserer Zeit geworden, das heißt, recht
eigentlich zur schneidigen Waffe, welche von Gerechten und Ungerechten ge¬
schwungen wird, um den ganzen Chorus der retardirenden Gewalten oder
was man als solche ansieht aus dem Felde zu schlagen. Der Fortschritt
ist die Signatur des Jahrhunderts, und wer es leugnet, muß wenigstens das
zugeben, daß das Anrufen desselben und das Sichberufen auf ihn zur üb¬
lichsten verbreitetsten Parole geworden ist. Man mag sie bekämpfen, als
irrig oder als traurig, ignoriren aber, als unwichtig oder ohnmächtig, darf
sie keiner, der seiner Zeit und der Menschheit ehrlich ins Auge zu blicken
wagt; denn an'es als bloße Parole ist der Fortschritt eine Macht, die man
nicht unterschätzen darf. Ich sehe nicht ein, was uns abhalten könnte, dieser
viel gebrauchten und viel mißbrauchten Idee des Fortschrittes einmal den
Puls zu fühlen, sie vor unser Forum zu citiren und sie um ihre Legitimation
zu ersuchen; höchstens die Unzulänglichkeit meiner Mittel gegenüber der
Größe der Aufgabe. Denn, was letztere betrifft, so will ich mir die Sache
nicht eben leichter machen durch Beschränkung der Diagnose auf ein bestimm¬
tes Gebiet, etwa auf das einer Fachwissenschaft, sondern ich will von dem
Fortschritt überhaupt sprechen, daß heißt vom Fortschreiten zum
Bessern, wie es auf allen Gebieten, wo menschliche Interessen zu vertreten
sind, auf dem kirchlichen wie dem staatlichen, dem wissenschaftlichen, wie dem
bürgerlichen sichtbar ist. „Ein kühnes Unterfangen", wird mancher viel¬
leicht denken, und doch fühle ich mich, wenn auch nicht an meinem Platz,
fo doch in meinem Recht; gegen den Vorwurf der Unbescheidenheit aber glaube
ich dadurch geschützt zu sein, daß ich nur die allgemeinsten, markirtesten und
jedem aufmerksamen Beobachter in die Augen fallenden Züge des Riesenbildes
andeute. Mehr bedarf es'auch nicht; und es wird nicht bloß einem Philo¬
sophen von Fach, es wird hoffentlich auch einem schlichten Menschenkind, das
seine offenen Sinne hat, erlaubt sein, von dem, was ihm tagtäglich um die
Ohren schwirrt und in die Augen fällt, seinen Eindruck zu empfangen und —
wiederzugeben. Wer von dem „sausenden Webstuhl der Zeit" gehört hat,
darf sich billig fragen, was denn da eigentlich gewoben werde, ob immer nur
in langweiliger Einförmigkeit das alte endlose Garn, oder ob nicht vielleicht
zu Zeiten der Einschlag, Zettel oder beides zugleich ganz anderen Stoffes, und
das Sausen ein viel mächtigeres als vordem, und ob beides mit einander ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/370>, abgerufen am 26.06.2024.