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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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Ueber den Isortschritt.

Wir sind gewohnt, von einem Kreislauf, wohl auch von einem ewigen
Kreislauf der Dinge zu hören und wir beziehen diesen Begriff gewöhnlich
auf die Erscheinungen der äußern Natur und verbinden damit die Vorstellung,
daß trotz aller Bewegung und alles Wechsels die Kreislinien doch wieder mit
geometrischer Genauigkeit zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren; der ewige
Fluß der Dinge, den schon der griechische Weise annahm, bringt nicht sowohl
Veränderung als eine unaufhörliche Wiederholung des schon Dagewesenen,
unter denselben bestimmten Bedingungen immer wieder und in gleicher Gestalt
Erscheinenden, und Neues kann nicht entstehen, weil eine neue Wirkung auch
immer neue Ursachen zur Voraussetzung haben müßte, die Zahl der Ursachen
aber eine stabile ist. So in der Natur des Alls, obschon einem Beobachter,
und er braucht nicht einmal ein wissenschaftlicher Forscher zu sein, kaum ent¬
gehen kann, daß jene Kreislinie bisweilen denn doch Abweichungen von der
normalen Gestalt aufweist, daß sie sogar eher einer Spirale gleicht, welche
immer und immer wieder, wenn auch in unmerklicher Abweichung, über den
Anfangspunkt hinausgeht. Je nachdem man nun dasjenige, was, im Gegen¬
satz zur unbewußten Natur, von Menschenhand und von Menschengeist aus
diesem Planeten geschaffen worden ist, das also, was im weitesten Sinn den
Inhalt der Geschichte ausmacht, je nachdem man diesen Vorrath von That¬
sachen für etwas anderes oder für nichts anderes als für ebenso viele Er¬
eignisse ansieht, welche mit eben derselben Naturnothwendigkeit sich abwickeln,
wie die rollenden Planeten oder die wechselnden Jahreszeiten dieß thun, wird man
auch von einem Kreislauf des Geschehenden (beziehungsweise der Geschichte)
reden, oder aber man wird sogar jene Spiralentwicklung für nicht mehr
bezeichnend genug halten, man wird vielmehr an eine fortschreitende Linie
denken, die sich je mehr und mehr, und zwar mit wachsender Schnelligkeit,
in geometrischer Progression vom Ausgangspunkt entfernt, und wenn sie auch
in gewissen Zeiträumen scheinbar wieder rückläufig wird, in den darauffolgen¬
den Tagen besseren Nachdenkens das Versäumte und Verträumte in Riesen¬
schritten nach-, ja weit überholt. Diese Theorie, deren Richtigkeit sich


Grcnzvotm III. 1875. 46
Ueber den Isortschritt.

Wir sind gewohnt, von einem Kreislauf, wohl auch von einem ewigen
Kreislauf der Dinge zu hören und wir beziehen diesen Begriff gewöhnlich
auf die Erscheinungen der äußern Natur und verbinden damit die Vorstellung,
daß trotz aller Bewegung und alles Wechsels die Kreislinien doch wieder mit
geometrischer Genauigkeit zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren; der ewige
Fluß der Dinge, den schon der griechische Weise annahm, bringt nicht sowohl
Veränderung als eine unaufhörliche Wiederholung des schon Dagewesenen,
unter denselben bestimmten Bedingungen immer wieder und in gleicher Gestalt
Erscheinenden, und Neues kann nicht entstehen, weil eine neue Wirkung auch
immer neue Ursachen zur Voraussetzung haben müßte, die Zahl der Ursachen
aber eine stabile ist. So in der Natur des Alls, obschon einem Beobachter,
und er braucht nicht einmal ein wissenschaftlicher Forscher zu sein, kaum ent¬
gehen kann, daß jene Kreislinie bisweilen denn doch Abweichungen von der
normalen Gestalt aufweist, daß sie sogar eher einer Spirale gleicht, welche
immer und immer wieder, wenn auch in unmerklicher Abweichung, über den
Anfangspunkt hinausgeht. Je nachdem man nun dasjenige, was, im Gegen¬
satz zur unbewußten Natur, von Menschenhand und von Menschengeist aus
diesem Planeten geschaffen worden ist, das also, was im weitesten Sinn den
Inhalt der Geschichte ausmacht, je nachdem man diesen Vorrath von That¬
sachen für etwas anderes oder für nichts anderes als für ebenso viele Er¬
eignisse ansieht, welche mit eben derselben Naturnothwendigkeit sich abwickeln,
wie die rollenden Planeten oder die wechselnden Jahreszeiten dieß thun, wird man
auch von einem Kreislauf des Geschehenden (beziehungsweise der Geschichte)
reden, oder aber man wird sogar jene Spiralentwicklung für nicht mehr
bezeichnend genug halten, man wird vielmehr an eine fortschreitende Linie
denken, die sich je mehr und mehr, und zwar mit wachsender Schnelligkeit,
in geometrischer Progression vom Ausgangspunkt entfernt, und wenn sie auch
in gewissen Zeiträumen scheinbar wieder rückläufig wird, in den darauffolgen¬
den Tagen besseren Nachdenkens das Versäumte und Verträumte in Riesen¬
schritten nach-, ja weit überholt. Diese Theorie, deren Richtigkeit sich


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[0369] Ueber den Isortschritt. Wir sind gewohnt, von einem Kreislauf, wohl auch von einem ewigen Kreislauf der Dinge zu hören und wir beziehen diesen Begriff gewöhnlich auf die Erscheinungen der äußern Natur und verbinden damit die Vorstellung, daß trotz aller Bewegung und alles Wechsels die Kreislinien doch wieder mit geometrischer Genauigkeit zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren; der ewige Fluß der Dinge, den schon der griechische Weise annahm, bringt nicht sowohl Veränderung als eine unaufhörliche Wiederholung des schon Dagewesenen, unter denselben bestimmten Bedingungen immer wieder und in gleicher Gestalt Erscheinenden, und Neues kann nicht entstehen, weil eine neue Wirkung auch immer neue Ursachen zur Voraussetzung haben müßte, die Zahl der Ursachen aber eine stabile ist. So in der Natur des Alls, obschon einem Beobachter, und er braucht nicht einmal ein wissenschaftlicher Forscher zu sein, kaum ent¬ gehen kann, daß jene Kreislinie bisweilen denn doch Abweichungen von der normalen Gestalt aufweist, daß sie sogar eher einer Spirale gleicht, welche immer und immer wieder, wenn auch in unmerklicher Abweichung, über den Anfangspunkt hinausgeht. Je nachdem man nun dasjenige, was, im Gegen¬ satz zur unbewußten Natur, von Menschenhand und von Menschengeist aus diesem Planeten geschaffen worden ist, das also, was im weitesten Sinn den Inhalt der Geschichte ausmacht, je nachdem man diesen Vorrath von That¬ sachen für etwas anderes oder für nichts anderes als für ebenso viele Er¬ eignisse ansieht, welche mit eben derselben Naturnothwendigkeit sich abwickeln, wie die rollenden Planeten oder die wechselnden Jahreszeiten dieß thun, wird man auch von einem Kreislauf des Geschehenden (beziehungsweise der Geschichte) reden, oder aber man wird sogar jene Spiralentwicklung für nicht mehr bezeichnend genug halten, man wird vielmehr an eine fortschreitende Linie denken, die sich je mehr und mehr, und zwar mit wachsender Schnelligkeit, in geometrischer Progression vom Ausgangspunkt entfernt, und wenn sie auch in gewissen Zeiträumen scheinbar wieder rückläufig wird, in den darauffolgen¬ den Tagen besseren Nachdenkens das Versäumte und Verträumte in Riesen¬ schritten nach-, ja weit überholt. Diese Theorie, deren Richtigkeit sich Grcnzvotm III. 1875. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/369>, abgerufen am 26.06.2024.