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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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die am Meeresgestade wächst. Nicht weit von ihr breitet sich auf dem Ufer¬
sande eine Aktinie, ein Seestern aus, den eine Woge an das Land geschwemmt hat.
Einige Meter unter der Oberfläche des Wassers sehen wir einen Schwamm,
einen Korallenstrauch, eine Madrepore. Wenn der Wind eiskalt wehen, wenn
der Orkan die Fluthen aufwühlen wird -- wie nennen wir dann dasjenige
dieser Wesen, welches sich empfindlich vor dem entfesselten Sturme zeigen wird:
Pflanze oder Thier? Der Schwamm, die Koralle, die Madrepore werden so
gleichgültig gegen das Nasen der Elemente bleiben wie der Fels, an den
sie angeheftet sind, oder wie der Kies, auf welchem der Seestern seine vier
Marmorarme ausstreckt. Dagegen wird die majestätische Eiche, welche mit
ihren gewaltigen Zweigen eine Strecke des Strandes beschattet, bei den
Stößen des Sturmes frösteln, sie wird ihre zarteren Zweige einziehen , und
ihre Blätter schließen, um sich vor dem eiskalten Luftzuge oder dem unge¬
stümen Winde zu schützen, und schon aus ihrer Haltung werden wir begreifen,
daß eine anormale Aufregung in der Natur herrscht. Werden wir von dieser
Erscheinung mit gutem Gewissen sagen, daß das Gewächs nichts fühlt, und
daß das Thier Empfindungsvermögen besitzt? Wird man sich nicht vielmehr
bewogen finden, zu vermuthen, daß der Baum hier das fühlende Wesen ist,
und daß der Seestern, der Schwamm, die Madrepore Wesen ohne alles Ge¬
fühlsvermögen sind?

Bleiben wir am Rande eines stillen Gewässers, am Teiche hinter unserm
Garten stehen, um hier den Polypen oder die Hydra des Süßwassers zu be¬
suchen, von der wir wiederholt gesprochen haben. Wir werden uns in einiger
Verlegenheit befinden, diesen Zoophyten inmitten der Binsen und Schilf¬
büschel herauszufinden, die ihn umgeben. Endlich aber werden wir eine lange
häutige Röhre erdenken, die eine Länge von einigen Centimetern hat. Allein
ist denn das auch wirklich die Süßwasser-Hydra, die wir kennen zu lernen
wünschten? Ist es nicht vielmehr der Halm oder die weißliche Wurzel einer
Graspflanze oder einer Binse? Dieser lebende Stiel, den dem Anschein nach
nichts von einem kraut- oder grasartigen Gewächse unterscheidet, ist wie eine
Wasserpflanze fortwährend an den Boden geheftet. Indeß bemerken wir jetzt,
daß er, ohne den Ort zu wechseln, einige schwache Bewegungen ausführt, die
lediglich im Oeffnen und Schließen der häutigen Röhre bestehen, welche in
der Hauptsache sein Wesen ausmacht. Dann verlängert er sich ein wenig,
und darauf zieht er sich wieder zusammen, indem er Seitenstiele ausstreckt,
eine Art häutiger Arme, fein wie Seidenfäden oder Wurzelfasern, mittelst deren
er die Wasserinseeten an sich lockt und ergreift, die der Zufall in seiner Nähe
vorbeigehen läßt. Das ist das einzige Merkmal seiner Beseeltheit. Wenn
wir damit rechnen dürften, wäre eine Luftpflanze, die Fliegen saugende Dionäe,
an die oben erinnert wurde, ganz in demselben Maße und Grade ein Thier


die am Meeresgestade wächst. Nicht weit von ihr breitet sich auf dem Ufer¬
sande eine Aktinie, ein Seestern aus, den eine Woge an das Land geschwemmt hat.
Einige Meter unter der Oberfläche des Wassers sehen wir einen Schwamm,
einen Korallenstrauch, eine Madrepore. Wenn der Wind eiskalt wehen, wenn
der Orkan die Fluthen aufwühlen wird — wie nennen wir dann dasjenige
dieser Wesen, welches sich empfindlich vor dem entfesselten Sturme zeigen wird:
Pflanze oder Thier? Der Schwamm, die Koralle, die Madrepore werden so
gleichgültig gegen das Nasen der Elemente bleiben wie der Fels, an den
sie angeheftet sind, oder wie der Kies, auf welchem der Seestern seine vier
Marmorarme ausstreckt. Dagegen wird die majestätische Eiche, welche mit
ihren gewaltigen Zweigen eine Strecke des Strandes beschattet, bei den
Stößen des Sturmes frösteln, sie wird ihre zarteren Zweige einziehen , und
ihre Blätter schließen, um sich vor dem eiskalten Luftzuge oder dem unge¬
stümen Winde zu schützen, und schon aus ihrer Haltung werden wir begreifen,
daß eine anormale Aufregung in der Natur herrscht. Werden wir von dieser
Erscheinung mit gutem Gewissen sagen, daß das Gewächs nichts fühlt, und
daß das Thier Empfindungsvermögen besitzt? Wird man sich nicht vielmehr
bewogen finden, zu vermuthen, daß der Baum hier das fühlende Wesen ist,
und daß der Seestern, der Schwamm, die Madrepore Wesen ohne alles Ge¬
fühlsvermögen sind?

Bleiben wir am Rande eines stillen Gewässers, am Teiche hinter unserm
Garten stehen, um hier den Polypen oder die Hydra des Süßwassers zu be¬
suchen, von der wir wiederholt gesprochen haben. Wir werden uns in einiger
Verlegenheit befinden, diesen Zoophyten inmitten der Binsen und Schilf¬
büschel herauszufinden, die ihn umgeben. Endlich aber werden wir eine lange
häutige Röhre erdenken, die eine Länge von einigen Centimetern hat. Allein
ist denn das auch wirklich die Süßwasser-Hydra, die wir kennen zu lernen
wünschten? Ist es nicht vielmehr der Halm oder die weißliche Wurzel einer
Graspflanze oder einer Binse? Dieser lebende Stiel, den dem Anschein nach
nichts von einem kraut- oder grasartigen Gewächse unterscheidet, ist wie eine
Wasserpflanze fortwährend an den Boden geheftet. Indeß bemerken wir jetzt,
daß er, ohne den Ort zu wechseln, einige schwache Bewegungen ausführt, die
lediglich im Oeffnen und Schließen der häutigen Röhre bestehen, welche in
der Hauptsache sein Wesen ausmacht. Dann verlängert er sich ein wenig,
und darauf zieht er sich wieder zusammen, indem er Seitenstiele ausstreckt,
eine Art häutiger Arme, fein wie Seidenfäden oder Wurzelfasern, mittelst deren
er die Wasserinseeten an sich lockt und ergreift, die der Zufall in seiner Nähe
vorbeigehen läßt. Das ist das einzige Merkmal seiner Beseeltheit. Wenn
wir damit rechnen dürften, wäre eine Luftpflanze, die Fliegen saugende Dionäe,
an die oben erinnert wurde, ganz in demselben Maße und Grade ein Thier


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[0350] die am Meeresgestade wächst. Nicht weit von ihr breitet sich auf dem Ufer¬ sande eine Aktinie, ein Seestern aus, den eine Woge an das Land geschwemmt hat. Einige Meter unter der Oberfläche des Wassers sehen wir einen Schwamm, einen Korallenstrauch, eine Madrepore. Wenn der Wind eiskalt wehen, wenn der Orkan die Fluthen aufwühlen wird — wie nennen wir dann dasjenige dieser Wesen, welches sich empfindlich vor dem entfesselten Sturme zeigen wird: Pflanze oder Thier? Der Schwamm, die Koralle, die Madrepore werden so gleichgültig gegen das Nasen der Elemente bleiben wie der Fels, an den sie angeheftet sind, oder wie der Kies, auf welchem der Seestern seine vier Marmorarme ausstreckt. Dagegen wird die majestätische Eiche, welche mit ihren gewaltigen Zweigen eine Strecke des Strandes beschattet, bei den Stößen des Sturmes frösteln, sie wird ihre zarteren Zweige einziehen , und ihre Blätter schließen, um sich vor dem eiskalten Luftzuge oder dem unge¬ stümen Winde zu schützen, und schon aus ihrer Haltung werden wir begreifen, daß eine anormale Aufregung in der Natur herrscht. Werden wir von dieser Erscheinung mit gutem Gewissen sagen, daß das Gewächs nichts fühlt, und daß das Thier Empfindungsvermögen besitzt? Wird man sich nicht vielmehr bewogen finden, zu vermuthen, daß der Baum hier das fühlende Wesen ist, und daß der Seestern, der Schwamm, die Madrepore Wesen ohne alles Ge¬ fühlsvermögen sind? Bleiben wir am Rande eines stillen Gewässers, am Teiche hinter unserm Garten stehen, um hier den Polypen oder die Hydra des Süßwassers zu be¬ suchen, von der wir wiederholt gesprochen haben. Wir werden uns in einiger Verlegenheit befinden, diesen Zoophyten inmitten der Binsen und Schilf¬ büschel herauszufinden, die ihn umgeben. Endlich aber werden wir eine lange häutige Röhre erdenken, die eine Länge von einigen Centimetern hat. Allein ist denn das auch wirklich die Süßwasser-Hydra, die wir kennen zu lernen wünschten? Ist es nicht vielmehr der Halm oder die weißliche Wurzel einer Graspflanze oder einer Binse? Dieser lebende Stiel, den dem Anschein nach nichts von einem kraut- oder grasartigen Gewächse unterscheidet, ist wie eine Wasserpflanze fortwährend an den Boden geheftet. Indeß bemerken wir jetzt, daß er, ohne den Ort zu wechseln, einige schwache Bewegungen ausführt, die lediglich im Oeffnen und Schließen der häutigen Röhre bestehen, welche in der Hauptsache sein Wesen ausmacht. Dann verlängert er sich ein wenig, und darauf zieht er sich wieder zusammen, indem er Seitenstiele ausstreckt, eine Art häutiger Arme, fein wie Seidenfäden oder Wurzelfasern, mittelst deren er die Wasserinseeten an sich lockt und ergreift, die der Zufall in seiner Nähe vorbeigehen läßt. Das ist das einzige Merkmal seiner Beseeltheit. Wenn wir damit rechnen dürften, wäre eine Luftpflanze, die Fliegen saugende Dionäe, an die oben erinnert wurde, ganz in demselben Maße und Grade ein Thier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/350>, abgerufen am 26.06.2024.