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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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same Arme hat, aus denen es eine Art Netz bildet, endlich, daß es diese
Beute in einen Verdauungskanal hineinschlingt, so würde unser Naturkun-
diger sich beeilt haben, die Süßwasser-Hydra unter die Thiere zu versetzen.
Nun aber würde man ihn wieder auf die Beobachtung hingelenkt haben, daß
dieser kleine Polyp die seltsame Eigenschaft besitzt, sich wie ein Handschuh
umwenden zu lassen, sodaß sein Inneres vollständig sein Aeußeres wird, und
daß er ferner, auf diese Weise umgewendet, ganz und gar ebenso lebt, wächst
und sich vervielfältigt wie vor der Umkehrung. Vor einer so ungewohnten
Thatsache in größter Ungewißheit, was zu thun, würde unser Naturforscher
sich zu dem Versuch entschlossen haben, zwischen den Thieren und den
Pflanzen ein Mittelreich aufzufinden, um dort jenes paradoxe Wesen unter¬
zubringen, welches mit Sicherheit weder den Thieren noch dem Reiche der
Gewächse zugewiesen werden kann.

So sind denn in der That die Klasseneintheilungen nur Erzeugnisse des
menschlichen Nachdenkens, die Natur kennt sie nicht. Man steigt durch kaum
bemerkbare Abstufungen an den Grenzen des einen Reiches hinab oder hinauf
in das andere. Man geht vom Menschen zum Polypen hinunter und vom
Rosenstrauch zum Polypen hinan durch unendliche Sprossen der Leiter hindurch,
und an der Scheide beider Gebiete giebt es eine lange Reihe von Geschöpfen,
die man nur mit großen Schwierigkeiten einigermaßen sicher dem einen oder
dem andern zuweisen kann. Wie lange Zeit haben die Naturforscher nicht
gezögert, die Infusorien, die Korallen, den Seeschwamm und den Seestern,
die Gorgonen. die Meeranemonen oder Actinien und die Madreporen als
Thiere gelten zu lassen! In unsern Tagen noch stoßen die Mikrographen,
welche die nur unter dem Vergrößerungsglase sichtbaren Wesen studiren, die
den animalischen und vegetabilischen Aufgüssen eigen sind, die Bakterien, die
Monaden. die Zitterthterchen. die Kugelthierchen. die verschiedenen Schimmel¬
arten zum Beispiel, nicht selten auf Hindernisse, vor denen sie sich besinnen
müssen, ob sie diese winzigen Wesen in dieses oder jenes Reich verweisen sollen,
und wenn sie eine neue Gattung dieser Geschöpfe entdecken, entscheiden sie
sich zuweilen ziemlich willkürlich, ein Thier oder eine Pflanze aus ihm zu
machen.

Aus allen Betrachtungen, allen Thatsachen, die hier auseinandergesetzt
worden sind, schließen wir. daß man den Pflanzen (wir würden sagen, ge¬
wissen thierartigen Pflanzen wenigstens) das Empfindungsvermögen so lange
nicht bestreiten kann, als man nicht daran denkt, diese Begabung den Zoo-
Phyten, der Koralle, der Seerose, den Madreporen und allen denen abzusprechen,
die oft so schwer von den Gewächsen zu unterscheiden sind.

Da sehen wir einen stolzen Baum, eine Eiche mit kräftigen Wurzeln,


same Arme hat, aus denen es eine Art Netz bildet, endlich, daß es diese
Beute in einen Verdauungskanal hineinschlingt, so würde unser Naturkun-
diger sich beeilt haben, die Süßwasser-Hydra unter die Thiere zu versetzen.
Nun aber würde man ihn wieder auf die Beobachtung hingelenkt haben, daß
dieser kleine Polyp die seltsame Eigenschaft besitzt, sich wie ein Handschuh
umwenden zu lassen, sodaß sein Inneres vollständig sein Aeußeres wird, und
daß er ferner, auf diese Weise umgewendet, ganz und gar ebenso lebt, wächst
und sich vervielfältigt wie vor der Umkehrung. Vor einer so ungewohnten
Thatsache in größter Ungewißheit, was zu thun, würde unser Naturforscher
sich zu dem Versuch entschlossen haben, zwischen den Thieren und den
Pflanzen ein Mittelreich aufzufinden, um dort jenes paradoxe Wesen unter¬
zubringen, welches mit Sicherheit weder den Thieren noch dem Reiche der
Gewächse zugewiesen werden kann.

So sind denn in der That die Klasseneintheilungen nur Erzeugnisse des
menschlichen Nachdenkens, die Natur kennt sie nicht. Man steigt durch kaum
bemerkbare Abstufungen an den Grenzen des einen Reiches hinab oder hinauf
in das andere. Man geht vom Menschen zum Polypen hinunter und vom
Rosenstrauch zum Polypen hinan durch unendliche Sprossen der Leiter hindurch,
und an der Scheide beider Gebiete giebt es eine lange Reihe von Geschöpfen,
die man nur mit großen Schwierigkeiten einigermaßen sicher dem einen oder
dem andern zuweisen kann. Wie lange Zeit haben die Naturforscher nicht
gezögert, die Infusorien, die Korallen, den Seeschwamm und den Seestern,
die Gorgonen. die Meeranemonen oder Actinien und die Madreporen als
Thiere gelten zu lassen! In unsern Tagen noch stoßen die Mikrographen,
welche die nur unter dem Vergrößerungsglase sichtbaren Wesen studiren, die
den animalischen und vegetabilischen Aufgüssen eigen sind, die Bakterien, die
Monaden. die Zitterthterchen. die Kugelthierchen. die verschiedenen Schimmel¬
arten zum Beispiel, nicht selten auf Hindernisse, vor denen sie sich besinnen
müssen, ob sie diese winzigen Wesen in dieses oder jenes Reich verweisen sollen,
und wenn sie eine neue Gattung dieser Geschöpfe entdecken, entscheiden sie
sich zuweilen ziemlich willkürlich, ein Thier oder eine Pflanze aus ihm zu
machen.

Aus allen Betrachtungen, allen Thatsachen, die hier auseinandergesetzt
worden sind, schließen wir. daß man den Pflanzen (wir würden sagen, ge¬
wissen thierartigen Pflanzen wenigstens) das Empfindungsvermögen so lange
nicht bestreiten kann, als man nicht daran denkt, diese Begabung den Zoo-
Phyten, der Koralle, der Seerose, den Madreporen und allen denen abzusprechen,
die oft so schwer von den Gewächsen zu unterscheiden sind.

Da sehen wir einen stolzen Baum, eine Eiche mit kräftigen Wurzeln,


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[0349] same Arme hat, aus denen es eine Art Netz bildet, endlich, daß es diese Beute in einen Verdauungskanal hineinschlingt, so würde unser Naturkun- diger sich beeilt haben, die Süßwasser-Hydra unter die Thiere zu versetzen. Nun aber würde man ihn wieder auf die Beobachtung hingelenkt haben, daß dieser kleine Polyp die seltsame Eigenschaft besitzt, sich wie ein Handschuh umwenden zu lassen, sodaß sein Inneres vollständig sein Aeußeres wird, und daß er ferner, auf diese Weise umgewendet, ganz und gar ebenso lebt, wächst und sich vervielfältigt wie vor der Umkehrung. Vor einer so ungewohnten Thatsache in größter Ungewißheit, was zu thun, würde unser Naturforscher sich zu dem Versuch entschlossen haben, zwischen den Thieren und den Pflanzen ein Mittelreich aufzufinden, um dort jenes paradoxe Wesen unter¬ zubringen, welches mit Sicherheit weder den Thieren noch dem Reiche der Gewächse zugewiesen werden kann. So sind denn in der That die Klasseneintheilungen nur Erzeugnisse des menschlichen Nachdenkens, die Natur kennt sie nicht. Man steigt durch kaum bemerkbare Abstufungen an den Grenzen des einen Reiches hinab oder hinauf in das andere. Man geht vom Menschen zum Polypen hinunter und vom Rosenstrauch zum Polypen hinan durch unendliche Sprossen der Leiter hindurch, und an der Scheide beider Gebiete giebt es eine lange Reihe von Geschöpfen, die man nur mit großen Schwierigkeiten einigermaßen sicher dem einen oder dem andern zuweisen kann. Wie lange Zeit haben die Naturforscher nicht gezögert, die Infusorien, die Korallen, den Seeschwamm und den Seestern, die Gorgonen. die Meeranemonen oder Actinien und die Madreporen als Thiere gelten zu lassen! In unsern Tagen noch stoßen die Mikrographen, welche die nur unter dem Vergrößerungsglase sichtbaren Wesen studiren, die den animalischen und vegetabilischen Aufgüssen eigen sind, die Bakterien, die Monaden. die Zitterthterchen. die Kugelthierchen. die verschiedenen Schimmel¬ arten zum Beispiel, nicht selten auf Hindernisse, vor denen sie sich besinnen müssen, ob sie diese winzigen Wesen in dieses oder jenes Reich verweisen sollen, und wenn sie eine neue Gattung dieser Geschöpfe entdecken, entscheiden sie sich zuweilen ziemlich willkürlich, ein Thier oder eine Pflanze aus ihm zu machen. Aus allen Betrachtungen, allen Thatsachen, die hier auseinandergesetzt worden sind, schließen wir. daß man den Pflanzen (wir würden sagen, ge¬ wissen thierartigen Pflanzen wenigstens) das Empfindungsvermögen so lange nicht bestreiten kann, als man nicht daran denkt, diese Begabung den Zoo- Phyten, der Koralle, der Seerose, den Madreporen und allen denen abzusprechen, die oft so schwer von den Gewächsen zu unterscheiden sind. Da sehen wir einen stolzen Baum, eine Eiche mit kräftigen Wurzeln,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/349>, abgerufen am 26.06.2024.