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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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von Nazareth. Die Kirche hat einst die Gesellschaft reformirt, jetzt muß die
Gesellschaft die Kirche reformiren. Und die Reform muß aus den Tiefen
kommen, aus jenem Theil des Clerus, der, durch Papst- und Bischofthum
doppelt bedrückt, in eben dieser Stellung des Sclaven und des Paria, eine
der Gesellschaft überlegene Intelligenz birgt, und in dem noch aufrührerisch
das Herz des Volkes schlägt. Die Unterweisung im göttlichen Wort wird
auch dann noch und immer vom Papste auf den Bischof, vom Bischof auf
den Priester übergehen, aber genährt und erneut durch den Geist des Evan¬
geliums und die Ideen der Jetztzeit, dann wird der Priester mit der wirk¬
sameren Lehre des Beispiels den Bischof und den Papst belehren, aufrütteln,
bekehren und aussöhnen. Aus den unteren Schichten der religiösen Gesellschaft
wird sie emporsteigen und der Welt ihrer Zeit jene wahre Frömmigkeit zu¬
rückgeben, die jetzt Redensart geworden ist, jene Sanftmuth, die jetzt mit den
Zähnen küssen möchte, jene Demuth die jetzt nirgends mehr herausklingt als
aus dem servus servorum vel. Der bloße Gedanke daran erhebt mich und
hingerissen von der heiligen Vorstellung blickt meine Phantasie in die Zukunft.
Ich sehe einen Greis, nur durch die friedliche Majestät seiner Stola für
Volk und König verehrungswürdig, mehr König jetzt, da er nur Priester
geworden und nicht mehr König ist; König des Herzens und des Gewissens,
hoher Meister einer Lehre von der Liebe, ein beachteter Rathgeber für den
Frieden der Völker, ein lebender Hinweis auf den Himmel, ein Stellvertreter
Gottes auf Erden. -- Und um ihn herum, kaum weniger verehrungswürdig
als er, andere Greise, wie er mit nichts Anderem gerüstet, als einzig mit
ihrer Sanftmuth, wie er Verwalter eines Schatzes, den sie unversehrt dem
wieder einliefern, der Herr ist über Alle, seine Brüder, und mit ihm Herrscher,
aber Jünger nicht weniger als Herrscher, Söhne ebenso wie Brüder, die ersten
im Gebieten und zugleich die ersten im Gehorsam. Und noch tiefer eine nicht
zu zahlreiche oder doch große Menge von Menschen jedes Standes, die in der
Sorge für Andere als eine leichte Freude das Sichselbstvergessen gefunden
haben, denen die über Büchern "erwachten Nächte Erholung sind, die im
Schweiß ihres Angesichts arbeiten, um Thränen zu trocknen, Bedürftige zu
unterstützen, Jrrende zu führen, von den Waisen geliebt, von den Frauen
aus dem Volke vergöttert, sanftmüthig mit dem Niedrigen, wie mit dem ge¬
waltthätigen Löwen, einfachen Lebens und herrlichen Herzens, immer Freunoe
der Armen, den Verachteten immer zur Seite stehend, immer theilnehmend
beim Unglück, belebend in jedem Wohlwollen, nachsichtig bet allen Leiden¬
schaften , enthusiastisch für jede Größe, eine lebende Schule für jede fruchtbare,
verdienstliche, nothwendige Selbstverläugnung, ein Muster jeder Tugend und
Verkünder jeder Wahrheit. O Freude! Der Tempel bekämpft nicht länger
das Haus, die Gesellschaft ist nicht länger ein von der Kirche gesondertes


von Nazareth. Die Kirche hat einst die Gesellschaft reformirt, jetzt muß die
Gesellschaft die Kirche reformiren. Und die Reform muß aus den Tiefen
kommen, aus jenem Theil des Clerus, der, durch Papst- und Bischofthum
doppelt bedrückt, in eben dieser Stellung des Sclaven und des Paria, eine
der Gesellschaft überlegene Intelligenz birgt, und in dem noch aufrührerisch
das Herz des Volkes schlägt. Die Unterweisung im göttlichen Wort wird
auch dann noch und immer vom Papste auf den Bischof, vom Bischof auf
den Priester übergehen, aber genährt und erneut durch den Geist des Evan¬
geliums und die Ideen der Jetztzeit, dann wird der Priester mit der wirk¬
sameren Lehre des Beispiels den Bischof und den Papst belehren, aufrütteln,
bekehren und aussöhnen. Aus den unteren Schichten der religiösen Gesellschaft
wird sie emporsteigen und der Welt ihrer Zeit jene wahre Frömmigkeit zu¬
rückgeben, die jetzt Redensart geworden ist, jene Sanftmuth, die jetzt mit den
Zähnen küssen möchte, jene Demuth die jetzt nirgends mehr herausklingt als
aus dem servus servorum vel. Der bloße Gedanke daran erhebt mich und
hingerissen von der heiligen Vorstellung blickt meine Phantasie in die Zukunft.
Ich sehe einen Greis, nur durch die friedliche Majestät seiner Stola für
Volk und König verehrungswürdig, mehr König jetzt, da er nur Priester
geworden und nicht mehr König ist; König des Herzens und des Gewissens,
hoher Meister einer Lehre von der Liebe, ein beachteter Rathgeber für den
Frieden der Völker, ein lebender Hinweis auf den Himmel, ein Stellvertreter
Gottes auf Erden. — Und um ihn herum, kaum weniger verehrungswürdig
als er, andere Greise, wie er mit nichts Anderem gerüstet, als einzig mit
ihrer Sanftmuth, wie er Verwalter eines Schatzes, den sie unversehrt dem
wieder einliefern, der Herr ist über Alle, seine Brüder, und mit ihm Herrscher,
aber Jünger nicht weniger als Herrscher, Söhne ebenso wie Brüder, die ersten
im Gebieten und zugleich die ersten im Gehorsam. Und noch tiefer eine nicht
zu zahlreiche oder doch große Menge von Menschen jedes Standes, die in der
Sorge für Andere als eine leichte Freude das Sichselbstvergessen gefunden
haben, denen die über Büchern «erwachten Nächte Erholung sind, die im
Schweiß ihres Angesichts arbeiten, um Thränen zu trocknen, Bedürftige zu
unterstützen, Jrrende zu führen, von den Waisen geliebt, von den Frauen
aus dem Volke vergöttert, sanftmüthig mit dem Niedrigen, wie mit dem ge¬
waltthätigen Löwen, einfachen Lebens und herrlichen Herzens, immer Freunoe
der Armen, den Verachteten immer zur Seite stehend, immer theilnehmend
beim Unglück, belebend in jedem Wohlwollen, nachsichtig bet allen Leiden¬
schaften , enthusiastisch für jede Größe, eine lebende Schule für jede fruchtbare,
verdienstliche, nothwendige Selbstverläugnung, ein Muster jeder Tugend und
Verkünder jeder Wahrheit. O Freude! Der Tempel bekämpft nicht länger
das Haus, die Gesellschaft ist nicht länger ein von der Kirche gesondertes


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[0344] von Nazareth. Die Kirche hat einst die Gesellschaft reformirt, jetzt muß die Gesellschaft die Kirche reformiren. Und die Reform muß aus den Tiefen kommen, aus jenem Theil des Clerus, der, durch Papst- und Bischofthum doppelt bedrückt, in eben dieser Stellung des Sclaven und des Paria, eine der Gesellschaft überlegene Intelligenz birgt, und in dem noch aufrührerisch das Herz des Volkes schlägt. Die Unterweisung im göttlichen Wort wird auch dann noch und immer vom Papste auf den Bischof, vom Bischof auf den Priester übergehen, aber genährt und erneut durch den Geist des Evan¬ geliums und die Ideen der Jetztzeit, dann wird der Priester mit der wirk¬ sameren Lehre des Beispiels den Bischof und den Papst belehren, aufrütteln, bekehren und aussöhnen. Aus den unteren Schichten der religiösen Gesellschaft wird sie emporsteigen und der Welt ihrer Zeit jene wahre Frömmigkeit zu¬ rückgeben, die jetzt Redensart geworden ist, jene Sanftmuth, die jetzt mit den Zähnen küssen möchte, jene Demuth die jetzt nirgends mehr herausklingt als aus dem servus servorum vel. Der bloße Gedanke daran erhebt mich und hingerissen von der heiligen Vorstellung blickt meine Phantasie in die Zukunft. Ich sehe einen Greis, nur durch die friedliche Majestät seiner Stola für Volk und König verehrungswürdig, mehr König jetzt, da er nur Priester geworden und nicht mehr König ist; König des Herzens und des Gewissens, hoher Meister einer Lehre von der Liebe, ein beachteter Rathgeber für den Frieden der Völker, ein lebender Hinweis auf den Himmel, ein Stellvertreter Gottes auf Erden. — Und um ihn herum, kaum weniger verehrungswürdig als er, andere Greise, wie er mit nichts Anderem gerüstet, als einzig mit ihrer Sanftmuth, wie er Verwalter eines Schatzes, den sie unversehrt dem wieder einliefern, der Herr ist über Alle, seine Brüder, und mit ihm Herrscher, aber Jünger nicht weniger als Herrscher, Söhne ebenso wie Brüder, die ersten im Gebieten und zugleich die ersten im Gehorsam. Und noch tiefer eine nicht zu zahlreiche oder doch große Menge von Menschen jedes Standes, die in der Sorge für Andere als eine leichte Freude das Sichselbstvergessen gefunden haben, denen die über Büchern «erwachten Nächte Erholung sind, die im Schweiß ihres Angesichts arbeiten, um Thränen zu trocknen, Bedürftige zu unterstützen, Jrrende zu führen, von den Waisen geliebt, von den Frauen aus dem Volke vergöttert, sanftmüthig mit dem Niedrigen, wie mit dem ge¬ waltthätigen Löwen, einfachen Lebens und herrlichen Herzens, immer Freunoe der Armen, den Verachteten immer zur Seite stehend, immer theilnehmend beim Unglück, belebend in jedem Wohlwollen, nachsichtig bet allen Leiden¬ schaften , enthusiastisch für jede Größe, eine lebende Schule für jede fruchtbare, verdienstliche, nothwendige Selbstverläugnung, ein Muster jeder Tugend und Verkünder jeder Wahrheit. O Freude! Der Tempel bekämpft nicht länger das Haus, die Gesellschaft ist nicht länger ein von der Kirche gesondertes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/344>, abgerufen am 26.06.2024.