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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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rung des Priesters in der Kutte noch zu erhöhen, und daß nicht ein ver¬
stärkter, mönchischer Geist, sondern die Ausübung größerer christlicher Liebe des
das einzige Mittel gewesen wäre, die Unzuträglichkeiten der Ausnahmestellung
Priesters inmitten der Gesellschaft zu vermindern oder vielleicht zu verhüten. Für
jede Gewalt, die gegen die Natur geübt wird, rächt sich die Natur früher
oder später.

Wollt Ihr die menschlichen Leidenschaften unterdrücken, so ersetzt sie
wenigstens durch eine heilige Leidenschaft, sonst werden sie, auf einige Zelt
zurückgedrängt, um so mächtiger und entehrender losbrechen, oder wenn sie
die Ehre bewahren, ist es nur jene Scheinheiligkeit, die nicht erforscht sein
will. Ich denke, um ein Beispiel zu geben, an das Weib, das auf alle Hoff¬
nungen der Zukunft, auf das Glück der Liebe, auf die Freuden der Mutter¬
schaft verzichtet, um mit höherer Mütterlichkeit alle Unwissenheit, jede Schwäche,
jeden Schmerz zu umfangen und sein ganzes Leben hingibt, um Kinder zu
zu unterrichten, Kranke zu pflegen. Traurige zu trösten. Das Herz dieses
Weibes ist beschäftigt, ist ausgefüllt, es hat, wenn ich so sagen darf, keine
Zeit an die Liebe zu denken, und die wird sich kaum bewußt werden, daß sie
Jungfrau geblieben, die jeden Augenblick wie eine Mutter fühlt. Aber ich
denke dabei nicht an das Weib, das auf diese hohen Pflichten verzichtet hat.
um sich lebendig zwischen vier Mauern zu begraben, das fein Herz durch kein
andres Gefühl zu beschäftigen weiß, das im Stande wäre, es zu erfüllen,
und das seiner vereinsamten Seele keine andre Nahrung zuführt, als arm¬
seligen, gemeinen Klosterklatsch oder einförmige Arbeiten, die mehr dazu ge¬
eignet sind, die Phantasie zu beflügeln, als ihr Fesseln anzulegen, oder fromme
Uebungen, die Gewohnheit und regelmäßige Wiederkehr längst jedes Duftes,
jeder Frische, jedes Lebens beraubt haben. Muß nicht dieses arme Weib
sich unbarmherzig quälen und verderben? Oder wird es darum weniger
entwürdigt sein, weil nur die Seele brennt in der Flamme ohnmächtiger
Begierden?

In den Seminarien herrscht die jesuitische Tendenz des modernen Katho¬
licismus, welche unter dem Borwand, durch die Sinne das religiöse Gefühl
zu heben, dieses in den Sinnen zurück und gefangen hält, unter dem Vor¬
wand, dasselbe an alle die nichtigen Vorgänge, an jedes Bedürfniß des
Lebens zu heften es zerstückelt und zermalmt, und unter dem Vorwand,
den menschlichen Dingen die Weise zur möglichsten Uebereinstimmung vorzu¬
schreiben, den Enthusiasmus versteint. Unterricht, Erziehung, Bedürfnisse,
Leidenschaften, Geschäfte, Vergnügungen, Alles ist dem Hauptgedanken äußerer
Frömmigkeit untergeordnet.

Eine Mutter würde jene Knaben, denen die unaufhörlich und nicht zu
unterdrückende Lebhaftigkeit bei Tage eine um so längere Nachtruhe nöthig


rung des Priesters in der Kutte noch zu erhöhen, und daß nicht ein ver¬
stärkter, mönchischer Geist, sondern die Ausübung größerer christlicher Liebe des
das einzige Mittel gewesen wäre, die Unzuträglichkeiten der Ausnahmestellung
Priesters inmitten der Gesellschaft zu vermindern oder vielleicht zu verhüten. Für
jede Gewalt, die gegen die Natur geübt wird, rächt sich die Natur früher
oder später.

Wollt Ihr die menschlichen Leidenschaften unterdrücken, so ersetzt sie
wenigstens durch eine heilige Leidenschaft, sonst werden sie, auf einige Zelt
zurückgedrängt, um so mächtiger und entehrender losbrechen, oder wenn sie
die Ehre bewahren, ist es nur jene Scheinheiligkeit, die nicht erforscht sein
will. Ich denke, um ein Beispiel zu geben, an das Weib, das auf alle Hoff¬
nungen der Zukunft, auf das Glück der Liebe, auf die Freuden der Mutter¬
schaft verzichtet, um mit höherer Mütterlichkeit alle Unwissenheit, jede Schwäche,
jeden Schmerz zu umfangen und sein ganzes Leben hingibt, um Kinder zu
zu unterrichten, Kranke zu pflegen. Traurige zu trösten. Das Herz dieses
Weibes ist beschäftigt, ist ausgefüllt, es hat, wenn ich so sagen darf, keine
Zeit an die Liebe zu denken, und die wird sich kaum bewußt werden, daß sie
Jungfrau geblieben, die jeden Augenblick wie eine Mutter fühlt. Aber ich
denke dabei nicht an das Weib, das auf diese hohen Pflichten verzichtet hat.
um sich lebendig zwischen vier Mauern zu begraben, das fein Herz durch kein
andres Gefühl zu beschäftigen weiß, das im Stande wäre, es zu erfüllen,
und das seiner vereinsamten Seele keine andre Nahrung zuführt, als arm¬
seligen, gemeinen Klosterklatsch oder einförmige Arbeiten, die mehr dazu ge¬
eignet sind, die Phantasie zu beflügeln, als ihr Fesseln anzulegen, oder fromme
Uebungen, die Gewohnheit und regelmäßige Wiederkehr längst jedes Duftes,
jeder Frische, jedes Lebens beraubt haben. Muß nicht dieses arme Weib
sich unbarmherzig quälen und verderben? Oder wird es darum weniger
entwürdigt sein, weil nur die Seele brennt in der Flamme ohnmächtiger
Begierden?

In den Seminarien herrscht die jesuitische Tendenz des modernen Katho¬
licismus, welche unter dem Borwand, durch die Sinne das religiöse Gefühl
zu heben, dieses in den Sinnen zurück und gefangen hält, unter dem Vor¬
wand, dasselbe an alle die nichtigen Vorgänge, an jedes Bedürfniß des
Lebens zu heften es zerstückelt und zermalmt, und unter dem Vorwand,
den menschlichen Dingen die Weise zur möglichsten Uebereinstimmung vorzu¬
schreiben, den Enthusiasmus versteint. Unterricht, Erziehung, Bedürfnisse,
Leidenschaften, Geschäfte, Vergnügungen, Alles ist dem Hauptgedanken äußerer
Frömmigkeit untergeordnet.

Eine Mutter würde jene Knaben, denen die unaufhörlich und nicht zu
unterdrückende Lebhaftigkeit bei Tage eine um so längere Nachtruhe nöthig


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[0341] rung des Priesters in der Kutte noch zu erhöhen, und daß nicht ein ver¬ stärkter, mönchischer Geist, sondern die Ausübung größerer christlicher Liebe des das einzige Mittel gewesen wäre, die Unzuträglichkeiten der Ausnahmestellung Priesters inmitten der Gesellschaft zu vermindern oder vielleicht zu verhüten. Für jede Gewalt, die gegen die Natur geübt wird, rächt sich die Natur früher oder später. Wollt Ihr die menschlichen Leidenschaften unterdrücken, so ersetzt sie wenigstens durch eine heilige Leidenschaft, sonst werden sie, auf einige Zelt zurückgedrängt, um so mächtiger und entehrender losbrechen, oder wenn sie die Ehre bewahren, ist es nur jene Scheinheiligkeit, die nicht erforscht sein will. Ich denke, um ein Beispiel zu geben, an das Weib, das auf alle Hoff¬ nungen der Zukunft, auf das Glück der Liebe, auf die Freuden der Mutter¬ schaft verzichtet, um mit höherer Mütterlichkeit alle Unwissenheit, jede Schwäche, jeden Schmerz zu umfangen und sein ganzes Leben hingibt, um Kinder zu zu unterrichten, Kranke zu pflegen. Traurige zu trösten. Das Herz dieses Weibes ist beschäftigt, ist ausgefüllt, es hat, wenn ich so sagen darf, keine Zeit an die Liebe zu denken, und die wird sich kaum bewußt werden, daß sie Jungfrau geblieben, die jeden Augenblick wie eine Mutter fühlt. Aber ich denke dabei nicht an das Weib, das auf diese hohen Pflichten verzichtet hat. um sich lebendig zwischen vier Mauern zu begraben, das fein Herz durch kein andres Gefühl zu beschäftigen weiß, das im Stande wäre, es zu erfüllen, und das seiner vereinsamten Seele keine andre Nahrung zuführt, als arm¬ seligen, gemeinen Klosterklatsch oder einförmige Arbeiten, die mehr dazu ge¬ eignet sind, die Phantasie zu beflügeln, als ihr Fesseln anzulegen, oder fromme Uebungen, die Gewohnheit und regelmäßige Wiederkehr längst jedes Duftes, jeder Frische, jedes Lebens beraubt haben. Muß nicht dieses arme Weib sich unbarmherzig quälen und verderben? Oder wird es darum weniger entwürdigt sein, weil nur die Seele brennt in der Flamme ohnmächtiger Begierden? In den Seminarien herrscht die jesuitische Tendenz des modernen Katho¬ licismus, welche unter dem Borwand, durch die Sinne das religiöse Gefühl zu heben, dieses in den Sinnen zurück und gefangen hält, unter dem Vor¬ wand, dasselbe an alle die nichtigen Vorgänge, an jedes Bedürfniß des Lebens zu heften es zerstückelt und zermalmt, und unter dem Vorwand, den menschlichen Dingen die Weise zur möglichsten Uebereinstimmung vorzu¬ schreiben, den Enthusiasmus versteint. Unterricht, Erziehung, Bedürfnisse, Leidenschaften, Geschäfte, Vergnügungen, Alles ist dem Hauptgedanken äußerer Frömmigkeit untergeordnet. Eine Mutter würde jene Knaben, denen die unaufhörlich und nicht zu unterdrückende Lebhaftigkeit bei Tage eine um so längere Nachtruhe nöthig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/341>, abgerufen am 26.06.2024.