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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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MAM uri°', vollständig vergessen? Und war es auch heilsam, den Nati) in
eine Vorschrift, die Ausnahme zur Regel zu verwandeln, müße man auch dann
noch den Kampf suchen, nachdem die Erfahrung ihn kaum durchführbar ge¬
zeigt? Mußte die Kirche jenen Satz von dem menschlichen Spiritualismus
auch dann noch hartnäckig aufrecht erhalten, als wiederholte und anstößige
Beweise eines noch größern Materialismus ihr diesen Irrthum benommen
haben mußten? War es klug, sich in einem Alter, in dem man das Leben
noch nicht kennt, über die Bedürfnisse des Lebens hinweg zu setzen? Oder
war es klug, daß der begeisterte Irrthum eines einzigen Tages zur Strafe
die Qual aller andern Tage nach sich ziehen sollte? Oder war es menschlich,
daß einem Leben, das sich später als verfehlt erkannte, jeder Ausweg auf ewig
und unerbittlich verschlossen war? Aber ich verlange, daß um der langen
Gewohnheit des Opfers, um der noch nicht erschütterten Ehrfurcht der Völker
und der geringeren Versuchung der Gesellschaft willen, die Skandale zur
Stunde seltener seien, leichter verborgen oder doch wenigstens weniger all¬
gemein bekannt werden, damit jene Asceten sich für Alle über die Unerretch-
barkeit einer Höhe täuschen können, die auch den Wenigen, den Auserwählten
kaum erreichbar ist. Aber wenn aus dem Christenthum, das aus mißverstan¬
dener Liebe zum Himmel, zur Seele und zur Ewigkeit schließlich verlangt, den
Körper, die Gegenwart und die Erde zu vergessen und zu verdammen, das
Heidenthum wieder auflebte, wenn es auflebte und auf dem päpstlichen Thron
zu Rom triumphirte und jubelte, wenn der Kirchhof der Märtyrer zur Cloake
geworden, wenn die nur zu wahre Stimme Savonarola's mit dem Scheiter¬
haufen gerächt und aus dem Abhub des Sanktuariums die Reform entsproßt
sein wird, kann dann nicht in den Kirchenfürsten der Zweifel entstehen, daß
der Grund zu so viel anstößiger Jmmoralität in dem Bestreben zu suchen ist,
zu Vielen eine zu hohe, eine bevorzugte und ausnahmsweise Moralität ein¬
impfen zu wollen? So mag denn auch die Erinnerung nicht überraschen,
daß in der primitiven Kirche, in der ersten Blüthe der noch ungeschädigten
Frische des christlichen Enthusiasmus, als die Stimme des reinen Jüngers
als erste und fast einzige Vorschrift die christliche Liebe predigte, in dieser
ersten Kirche, sage ich, der Priester als Priester galt, auch wenn er nicht
ehelos war, daß die Höhe seines Amtes nicht für verletzt galt durch die Aus¬
übung weniger hoher Pflichten und daß seine christliche Liebe nicht getrübt
wurde durch den Herzschlag mehr menschlicher Leidenschaften.

Mir ist gesagt worden, daß die protestantische Reformation die der
Katholiken herausgefordert hat, und daß das Concil, welches sie ausführte,
Luther den Mund schloß, indem es die Anstößigkeiten der Kirche abschaffte.
Aber abgesehen von den Dogmen, erreichte das Concil wirklich eine Reform
der Disciplin? Das Concilium erstrebte hauptsächlich, jenen Theil von dem


MAM uri°', vollständig vergessen? Und war es auch heilsam, den Nati) in
eine Vorschrift, die Ausnahme zur Regel zu verwandeln, müße man auch dann
noch den Kampf suchen, nachdem die Erfahrung ihn kaum durchführbar ge¬
zeigt? Mußte die Kirche jenen Satz von dem menschlichen Spiritualismus
auch dann noch hartnäckig aufrecht erhalten, als wiederholte und anstößige
Beweise eines noch größern Materialismus ihr diesen Irrthum benommen
haben mußten? War es klug, sich in einem Alter, in dem man das Leben
noch nicht kennt, über die Bedürfnisse des Lebens hinweg zu setzen? Oder
war es klug, daß der begeisterte Irrthum eines einzigen Tages zur Strafe
die Qual aller andern Tage nach sich ziehen sollte? Oder war es menschlich,
daß einem Leben, das sich später als verfehlt erkannte, jeder Ausweg auf ewig
und unerbittlich verschlossen war? Aber ich verlange, daß um der langen
Gewohnheit des Opfers, um der noch nicht erschütterten Ehrfurcht der Völker
und der geringeren Versuchung der Gesellschaft willen, die Skandale zur
Stunde seltener seien, leichter verborgen oder doch wenigstens weniger all¬
gemein bekannt werden, damit jene Asceten sich für Alle über die Unerretch-
barkeit einer Höhe täuschen können, die auch den Wenigen, den Auserwählten
kaum erreichbar ist. Aber wenn aus dem Christenthum, das aus mißverstan¬
dener Liebe zum Himmel, zur Seele und zur Ewigkeit schließlich verlangt, den
Körper, die Gegenwart und die Erde zu vergessen und zu verdammen, das
Heidenthum wieder auflebte, wenn es auflebte und auf dem päpstlichen Thron
zu Rom triumphirte und jubelte, wenn der Kirchhof der Märtyrer zur Cloake
geworden, wenn die nur zu wahre Stimme Savonarola's mit dem Scheiter¬
haufen gerächt und aus dem Abhub des Sanktuariums die Reform entsproßt
sein wird, kann dann nicht in den Kirchenfürsten der Zweifel entstehen, daß
der Grund zu so viel anstößiger Jmmoralität in dem Bestreben zu suchen ist,
zu Vielen eine zu hohe, eine bevorzugte und ausnahmsweise Moralität ein¬
impfen zu wollen? So mag denn auch die Erinnerung nicht überraschen,
daß in der primitiven Kirche, in der ersten Blüthe der noch ungeschädigten
Frische des christlichen Enthusiasmus, als die Stimme des reinen Jüngers
als erste und fast einzige Vorschrift die christliche Liebe predigte, in dieser
ersten Kirche, sage ich, der Priester als Priester galt, auch wenn er nicht
ehelos war, daß die Höhe seines Amtes nicht für verletzt galt durch die Aus¬
übung weniger hoher Pflichten und daß seine christliche Liebe nicht getrübt
wurde durch den Herzschlag mehr menschlicher Leidenschaften.

Mir ist gesagt worden, daß die protestantische Reformation die der
Katholiken herausgefordert hat, und daß das Concil, welches sie ausführte,
Luther den Mund schloß, indem es die Anstößigkeiten der Kirche abschaffte.
Aber abgesehen von den Dogmen, erreichte das Concil wirklich eine Reform
der Disciplin? Das Concilium erstrebte hauptsächlich, jenen Theil von dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/339>, abgerufen am 26.06.2024.