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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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er starb, mir eine beredte Schrift von sich zusandte, die ich veröffentlicht
habe.*) Es ist in jedem Wort ein Schmerzensschrei der Seele, und zwar
einer edeln Seele voll biblischer und religiöser Begeisterung. Wenn er lebte,
würde er vielleicht eine fruchtbringende Bewegung unter dem Clerus hervor¬
gerufen haben. Aber es ist erlaubt, aus diesen Blättern zu schließen, wie
viele andre Priester dasselbe fühlen, denken und wollen mögen, was der junge
und beklagenswerthe Abade Polo gefühlt, gedacht und gewollt hat.

Ich bitte um die Erlaubniß, einige der charakteristischsten Seiten dieses
wichtigen Schriftstückes anzuführen. Jeder fühlt die Wahrheit und die tiefe
Melancholie heraus, die sie beherrscht, und sicher könnte ich nichts Wahreres
und Wirksameres darüber schreiben.

Er schreibt: Ich werde nicht den schönen und hohen Grund des Cölibates
verkennen. Der Mensch, der durch eine religiöse Weise über die andern
Menschen empor gehoben worden und zum Mittler zwischen Menschen und
Gott gemacht worden ist, muß auch weniger Menschliches besitzen; der muß
rein sein wie das Gotteslamm, der durch das Lamm über den gewöhnlichen
Schlag bevorzugt worden ist. Wem die ganze Welt die Familie ist, der
darf keine eigne Familie haben; der Alle tröstet, soll für sich selbst nicht des
Trostes bedürfen. Er soll sich einsam und rein auf der traurigen Höhe halten,
zu der Gott ihn berufen hat, er soll alle Schwächen bemitleiden, ohne ihnen
jemals selbst zu unterliegen, er soll alle Leidenschaften mitfühlen, ohne je von
ihnen mehr als die Pflichten und die Leiden auf sich zu nehmen, er soll Allen
die Freude austheilen, ohne von dem Becher, den er der ganzen Welt bietet,
jemals auch nur einen Tropfen zu kosten. Es ist ein hoher Gedanke, ein
erhabenes Ideal, ein Ziel, das wohl jede edle Seele entflammen kann, und
das auch wirklich so viele schon entflammt hat zu dem Berufe, der für die
Begeisterung voll von jeder Hoheit, in dem jedes Hinderniß nur als ein
Spiel erscheint.

Aber ich kann mich nicht überzeugen, daß dieser Institution des geistlichen
Cölibates eine größere Lauterkeit des Priesterstandes gefolgt wäre.

Wenn man dem mönchischen Geiste des Mittelalters die gewiß edle An¬
maßung verzeihen kann, mehr und Bessres sein zu wollen als selbst die Apostel,
so werden wir auch ohne Ueberwindung zugeben, daß in einer Zeit, wo die
Liebe des Himmels soviel bedeutete, als die Feindschaft gegen die Erde, wo
die Frömmigkeit als ein Gegensatz der Leidenschaft und die Reinigung des
Geistes als die Zerstörung der Materie galt, wenn irgend jemand so vor
Allen der Priester, zu dem sich verpflichtet fühlte, was Allen als eine Pflicht
erscheinen konnte. Aber hatten jene Menschen das apostolische "moliug nubsrö



") I^s c-onclii-ioni xrescmti not eloi'v (rwlla Rivistg, Nuroxv" Xbrv 1870.)

er starb, mir eine beredte Schrift von sich zusandte, die ich veröffentlicht
habe.*) Es ist in jedem Wort ein Schmerzensschrei der Seele, und zwar
einer edeln Seele voll biblischer und religiöser Begeisterung. Wenn er lebte,
würde er vielleicht eine fruchtbringende Bewegung unter dem Clerus hervor¬
gerufen haben. Aber es ist erlaubt, aus diesen Blättern zu schließen, wie
viele andre Priester dasselbe fühlen, denken und wollen mögen, was der junge
und beklagenswerthe Abade Polo gefühlt, gedacht und gewollt hat.

Ich bitte um die Erlaubniß, einige der charakteristischsten Seiten dieses
wichtigen Schriftstückes anzuführen. Jeder fühlt die Wahrheit und die tiefe
Melancholie heraus, die sie beherrscht, und sicher könnte ich nichts Wahreres
und Wirksameres darüber schreiben.

Er schreibt: Ich werde nicht den schönen und hohen Grund des Cölibates
verkennen. Der Mensch, der durch eine religiöse Weise über die andern
Menschen empor gehoben worden und zum Mittler zwischen Menschen und
Gott gemacht worden ist, muß auch weniger Menschliches besitzen; der muß
rein sein wie das Gotteslamm, der durch das Lamm über den gewöhnlichen
Schlag bevorzugt worden ist. Wem die ganze Welt die Familie ist, der
darf keine eigne Familie haben; der Alle tröstet, soll für sich selbst nicht des
Trostes bedürfen. Er soll sich einsam und rein auf der traurigen Höhe halten,
zu der Gott ihn berufen hat, er soll alle Schwächen bemitleiden, ohne ihnen
jemals selbst zu unterliegen, er soll alle Leidenschaften mitfühlen, ohne je von
ihnen mehr als die Pflichten und die Leiden auf sich zu nehmen, er soll Allen
die Freude austheilen, ohne von dem Becher, den er der ganzen Welt bietet,
jemals auch nur einen Tropfen zu kosten. Es ist ein hoher Gedanke, ein
erhabenes Ideal, ein Ziel, das wohl jede edle Seele entflammen kann, und
das auch wirklich so viele schon entflammt hat zu dem Berufe, der für die
Begeisterung voll von jeder Hoheit, in dem jedes Hinderniß nur als ein
Spiel erscheint.

Aber ich kann mich nicht überzeugen, daß dieser Institution des geistlichen
Cölibates eine größere Lauterkeit des Priesterstandes gefolgt wäre.

Wenn man dem mönchischen Geiste des Mittelalters die gewiß edle An¬
maßung verzeihen kann, mehr und Bessres sein zu wollen als selbst die Apostel,
so werden wir auch ohne Ueberwindung zugeben, daß in einer Zeit, wo die
Liebe des Himmels soviel bedeutete, als die Feindschaft gegen die Erde, wo
die Frömmigkeit als ein Gegensatz der Leidenschaft und die Reinigung des
Geistes als die Zerstörung der Materie galt, wenn irgend jemand so vor
Allen der Priester, zu dem sich verpflichtet fühlte, was Allen als eine Pflicht
erscheinen konnte. Aber hatten jene Menschen das apostolische «moliug nubsrö



") I^s c-onclii-ioni xrescmti not eloi'v (rwlla Rivistg, Nuroxv» Xbrv 1870.)
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[0338] er starb, mir eine beredte Schrift von sich zusandte, die ich veröffentlicht habe.*) Es ist in jedem Wort ein Schmerzensschrei der Seele, und zwar einer edeln Seele voll biblischer und religiöser Begeisterung. Wenn er lebte, würde er vielleicht eine fruchtbringende Bewegung unter dem Clerus hervor¬ gerufen haben. Aber es ist erlaubt, aus diesen Blättern zu schließen, wie viele andre Priester dasselbe fühlen, denken und wollen mögen, was der junge und beklagenswerthe Abade Polo gefühlt, gedacht und gewollt hat. Ich bitte um die Erlaubniß, einige der charakteristischsten Seiten dieses wichtigen Schriftstückes anzuführen. Jeder fühlt die Wahrheit und die tiefe Melancholie heraus, die sie beherrscht, und sicher könnte ich nichts Wahreres und Wirksameres darüber schreiben. Er schreibt: Ich werde nicht den schönen und hohen Grund des Cölibates verkennen. Der Mensch, der durch eine religiöse Weise über die andern Menschen empor gehoben worden und zum Mittler zwischen Menschen und Gott gemacht worden ist, muß auch weniger Menschliches besitzen; der muß rein sein wie das Gotteslamm, der durch das Lamm über den gewöhnlichen Schlag bevorzugt worden ist. Wem die ganze Welt die Familie ist, der darf keine eigne Familie haben; der Alle tröstet, soll für sich selbst nicht des Trostes bedürfen. Er soll sich einsam und rein auf der traurigen Höhe halten, zu der Gott ihn berufen hat, er soll alle Schwächen bemitleiden, ohne ihnen jemals selbst zu unterliegen, er soll alle Leidenschaften mitfühlen, ohne je von ihnen mehr als die Pflichten und die Leiden auf sich zu nehmen, er soll Allen die Freude austheilen, ohne von dem Becher, den er der ganzen Welt bietet, jemals auch nur einen Tropfen zu kosten. Es ist ein hoher Gedanke, ein erhabenes Ideal, ein Ziel, das wohl jede edle Seele entflammen kann, und das auch wirklich so viele schon entflammt hat zu dem Berufe, der für die Begeisterung voll von jeder Hoheit, in dem jedes Hinderniß nur als ein Spiel erscheint. Aber ich kann mich nicht überzeugen, daß dieser Institution des geistlichen Cölibates eine größere Lauterkeit des Priesterstandes gefolgt wäre. Wenn man dem mönchischen Geiste des Mittelalters die gewiß edle An¬ maßung verzeihen kann, mehr und Bessres sein zu wollen als selbst die Apostel, so werden wir auch ohne Ueberwindung zugeben, daß in einer Zeit, wo die Liebe des Himmels soviel bedeutete, als die Feindschaft gegen die Erde, wo die Frömmigkeit als ein Gegensatz der Leidenschaft und die Reinigung des Geistes als die Zerstörung der Materie galt, wenn irgend jemand so vor Allen der Priester, zu dem sich verpflichtet fühlte, was Allen als eine Pflicht erscheinen konnte. Aber hatten jene Menschen das apostolische «moliug nubsrö ") I^s c-onclii-ioni xrescmti not eloi'v (rwlla Rivistg, Nuroxv» Xbrv 1870.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/338>, abgerufen am 26.06.2024.