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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.

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des Katholicismus, während der Cardinal Frederigo und der Bruder Christoforo
uns in das idealere und erhabenere Christenthum zurückführen, wie es die
ersten Verkünder der Lehre Christi empfunden und gepredigt haben müssen.
Aber dieses Christenthum, das gewissermaßen über- und außerhalb der Gesell¬
schaft zurückbleibt, das den Menschen leitet, nicht aber die menschliche Gesell¬
schaft in ihren innersten Adern durchdringt und bewegt, ist es heute noch
möglich? Genügt vielleicht, das Predigen von Frieden, Liebe, Sammlung
und evangelischer Beschaulichkeit in einer Welt, bewegt, erschüttert, hastig und
kampfbereit wie die Gegenwart? Genügt wohl eine solche Form des Christen¬
thums, wie die manzonianische, die sich unzutreffend eine katholische genannt
hat, den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft? Und selbst wenn es möglich
wäre, das erste Christenthum wieder in die Gesellschaft einzuführen, könnte
doch diese künstliche Auferstehung einer geschichtlich ausgelebten Form nur
eine vorübergehende sein, und es würde ihr nicht gelingen, die heutige bürger¬
liche Gesellschaft zu durchdringen. Eine Umwandlung ist unvermeidlich, aber
für den Katholicismus ist die Umwandlung der Tod. Die neue Religion
müßte das Gewissen des jetzigen Lebens besitzen und der Katholicismus steht
durchaus außerhalb dieses Lebens und in vollem Widerspruch mit ihm.
Welchen Namen man auch der neuen Religion geben möge, sie würde das
Wesen des Katholicismus erschüttern, das sich hauptsächlich auf das Princip
der Autorität stützt, während das erste Prinzip jeder neuen Religion nur die
Freiheit sein soll, aber eine thätige, mächtige, auf den Fortschritt bedachte
Freiheit. Und diese Freiheit würde der Katholicismus wohl nehmen aber
nicht geben können. Um also den Katholicismus am Leben zu erhalten,
würden zu viele Reformen nöthig sein, und wenn diese Reformen ausgeführt
würden, fände sich der Katholicismus so umgestaltet, daß man ihn nicht wieder
erkennen und er nur als eine neue Form des Protestantismus erscheinen würde.

Eine der Reformen, die im Katholicismus am dringendsten und unver-
meidlichsten scheinen, wird jene des Priestercölibates sein. Aber Jeder weiß,
daß der Katholicismus durch Aufhebung des geistlichen Cölibates einen großen
Theil seines jetzigen Charakters verlieren muß. Denn der Priester, der jetzt,
ein geheimer Herrscher, selbst der Familie beraubt, in die Familien Anderer
dringt, ihre Geheimnisse erlauscht, ihre Gewissen lenkt, ihre Handlungen leitet,
würde, wenn er eigne Familie hätte, die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der
Familie sehr viel höher achten, würde die Leidenschaften besser verstehen, wäre
weniger egoistisch und arbeitete für Andere und nicht mehr nur für sich oder
die Kirche; außerdem aber würde die Moral dabei sehr gewinnen, und der
Priester, wieder zum Menschen gemacht, könnte der Menschheit mehr nützen.
Es sind jetzt drei Jahre her, daß im Venezianischen ein achtungswerther
Priester, noch in blühendem Alter, starb, der Abade Germano Polo, der, ehe


Grenzvoten til. 187S. 42

des Katholicismus, während der Cardinal Frederigo und der Bruder Christoforo
uns in das idealere und erhabenere Christenthum zurückführen, wie es die
ersten Verkünder der Lehre Christi empfunden und gepredigt haben müssen.
Aber dieses Christenthum, das gewissermaßen über- und außerhalb der Gesell¬
schaft zurückbleibt, das den Menschen leitet, nicht aber die menschliche Gesell¬
schaft in ihren innersten Adern durchdringt und bewegt, ist es heute noch
möglich? Genügt vielleicht, das Predigen von Frieden, Liebe, Sammlung
und evangelischer Beschaulichkeit in einer Welt, bewegt, erschüttert, hastig und
kampfbereit wie die Gegenwart? Genügt wohl eine solche Form des Christen¬
thums, wie die manzonianische, die sich unzutreffend eine katholische genannt
hat, den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft? Und selbst wenn es möglich
wäre, das erste Christenthum wieder in die Gesellschaft einzuführen, könnte
doch diese künstliche Auferstehung einer geschichtlich ausgelebten Form nur
eine vorübergehende sein, und es würde ihr nicht gelingen, die heutige bürger¬
liche Gesellschaft zu durchdringen. Eine Umwandlung ist unvermeidlich, aber
für den Katholicismus ist die Umwandlung der Tod. Die neue Religion
müßte das Gewissen des jetzigen Lebens besitzen und der Katholicismus steht
durchaus außerhalb dieses Lebens und in vollem Widerspruch mit ihm.
Welchen Namen man auch der neuen Religion geben möge, sie würde das
Wesen des Katholicismus erschüttern, das sich hauptsächlich auf das Princip
der Autorität stützt, während das erste Prinzip jeder neuen Religion nur die
Freiheit sein soll, aber eine thätige, mächtige, auf den Fortschritt bedachte
Freiheit. Und diese Freiheit würde der Katholicismus wohl nehmen aber
nicht geben können. Um also den Katholicismus am Leben zu erhalten,
würden zu viele Reformen nöthig sein, und wenn diese Reformen ausgeführt
würden, fände sich der Katholicismus so umgestaltet, daß man ihn nicht wieder
erkennen und er nur als eine neue Form des Protestantismus erscheinen würde.

Eine der Reformen, die im Katholicismus am dringendsten und unver-
meidlichsten scheinen, wird jene des Priestercölibates sein. Aber Jeder weiß,
daß der Katholicismus durch Aufhebung des geistlichen Cölibates einen großen
Theil seines jetzigen Charakters verlieren muß. Denn der Priester, der jetzt,
ein geheimer Herrscher, selbst der Familie beraubt, in die Familien Anderer
dringt, ihre Geheimnisse erlauscht, ihre Gewissen lenkt, ihre Handlungen leitet,
würde, wenn er eigne Familie hätte, die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der
Familie sehr viel höher achten, würde die Leidenschaften besser verstehen, wäre
weniger egoistisch und arbeitete für Andere und nicht mehr nur für sich oder
die Kirche; außerdem aber würde die Moral dabei sehr gewinnen, und der
Priester, wieder zum Menschen gemacht, könnte der Menschheit mehr nützen.
Es sind jetzt drei Jahre her, daß im Venezianischen ein achtungswerther
Priester, noch in blühendem Alter, starb, der Abade Germano Polo, der, ehe


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[0337] des Katholicismus, während der Cardinal Frederigo und der Bruder Christoforo uns in das idealere und erhabenere Christenthum zurückführen, wie es die ersten Verkünder der Lehre Christi empfunden und gepredigt haben müssen. Aber dieses Christenthum, das gewissermaßen über- und außerhalb der Gesell¬ schaft zurückbleibt, das den Menschen leitet, nicht aber die menschliche Gesell¬ schaft in ihren innersten Adern durchdringt und bewegt, ist es heute noch möglich? Genügt vielleicht, das Predigen von Frieden, Liebe, Sammlung und evangelischer Beschaulichkeit in einer Welt, bewegt, erschüttert, hastig und kampfbereit wie die Gegenwart? Genügt wohl eine solche Form des Christen¬ thums, wie die manzonianische, die sich unzutreffend eine katholische genannt hat, den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft? Und selbst wenn es möglich wäre, das erste Christenthum wieder in die Gesellschaft einzuführen, könnte doch diese künstliche Auferstehung einer geschichtlich ausgelebten Form nur eine vorübergehende sein, und es würde ihr nicht gelingen, die heutige bürger¬ liche Gesellschaft zu durchdringen. Eine Umwandlung ist unvermeidlich, aber für den Katholicismus ist die Umwandlung der Tod. Die neue Religion müßte das Gewissen des jetzigen Lebens besitzen und der Katholicismus steht durchaus außerhalb dieses Lebens und in vollem Widerspruch mit ihm. Welchen Namen man auch der neuen Religion geben möge, sie würde das Wesen des Katholicismus erschüttern, das sich hauptsächlich auf das Princip der Autorität stützt, während das erste Prinzip jeder neuen Religion nur die Freiheit sein soll, aber eine thätige, mächtige, auf den Fortschritt bedachte Freiheit. Und diese Freiheit würde der Katholicismus wohl nehmen aber nicht geben können. Um also den Katholicismus am Leben zu erhalten, würden zu viele Reformen nöthig sein, und wenn diese Reformen ausgeführt würden, fände sich der Katholicismus so umgestaltet, daß man ihn nicht wieder erkennen und er nur als eine neue Form des Protestantismus erscheinen würde. Eine der Reformen, die im Katholicismus am dringendsten und unver- meidlichsten scheinen, wird jene des Priestercölibates sein. Aber Jeder weiß, daß der Katholicismus durch Aufhebung des geistlichen Cölibates einen großen Theil seines jetzigen Charakters verlieren muß. Denn der Priester, der jetzt, ein geheimer Herrscher, selbst der Familie beraubt, in die Familien Anderer dringt, ihre Geheimnisse erlauscht, ihre Gewissen lenkt, ihre Handlungen leitet, würde, wenn er eigne Familie hätte, die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Familie sehr viel höher achten, würde die Leidenschaften besser verstehen, wäre weniger egoistisch und arbeitete für Andere und nicht mehr nur für sich oder die Kirche; außerdem aber würde die Moral dabei sehr gewinnen, und der Priester, wieder zum Menschen gemacht, könnte der Menschheit mehr nützen. Es sind jetzt drei Jahre her, daß im Venezianischen ein achtungswerther Priester, noch in blühendem Alter, starb, der Abade Germano Polo, der, ehe Grenzvoten til. 187S. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148602/337>, abgerufen am 26.06.2024.